Ein Brückenbauer zwischen Ost und West – Zu Lama Anagarika Govindas 30. Todestag

Ein Beitrag von Vajramala veröffentlicht in der Ausgabe 2015/1 Gemeinschaft unter der Rubrik Porträt.

Über dreißig Jahre sind seit meiner letzten Begegnung mit Lama Anagarika Govinda im April 1984 vergangen. In den letzten zwölf Jahren seines Lebens war er mir zum Guru geworden.

Lama Anagarika Govinda | © AMM-Archiv

Der am 17. Mai 1898 geborene Ernst Lothar Hoffmann wuchs als Sohn einer bolivianischen Mutter und eines deutschen Vaters in Waldheim/Sachsen dreisprachig auf und träumte als Kind von den weiten Hochebenen und mächtigen Schneegipfeln der Anden. Nach vergleichenden Studien der Weltreligionen, die er als Schüler begonnen hatte, veröffentlichte er 1920 sein erstes Buch: Grundgedanken des Buddhismus und ihr Verhältnis zur Gottesidee, das wenig später ins Japanische übersetzt wurde. Eine an der Universität Neapel vorhandene Ausgabe des Pali-Kanon zog ihn im gleichen Jahr nach Italien, wo er Pali zu lernen und zu meditieren begann. Seine archäologischen Studien zu den Hügelgräbern im Mittelmeerraum führten ihn bis nach Malta und Nordafrika und weckten sein Interesse für den buddhistischen „Stupa“ als „psychokosmisches Lebens- und Todessymbol“ (1940/1976).

Von Italien aus brach er 1928 nach Sri Lanka auf, legte bei dem ehrwürdigen Nyanatiloka Mahathera die Brahmacari-Gelübde ab und erhielt von ihm den Namen Govinda. Ein Jahr später legte er in Burma das Gewand eines „hauslosen“ Anagarika* an. Seine Übersetzung des Abhidhammattha Sangaha, ein Compendium buddhistischer Philosophie und Psychologie (1931) diente als Grundlage seiner Vorlesungen an der Universität Patna und der Psychologischen Haltung der frühbuddhistischen Philosophie (1939/1962), bis heute eine der inspirierendsten Einführungen in den Abhidhamma. 1932 und 1938 bereiste Govinda Sikkim und das südtibetische Chumbi-Tal, 1933 Ladakh und den Changthang. Hier entdeckte er archaische Reliefs der 84 Siddhas, von denen er Steinabreibungen anfertigte. Von nun an galt sein besonderes Interesse den Überlieferungslinien dieser „Meister des mystischen Pfades“. Nach seiner Entlassung aus der Internierung plante er eine Expedition nach Westtibet (1947–49), von der er einzigartige „Umrißpausen der Tempelfresken von Tsaparang“ mitbrachte, die leider nur als Internum von 200 Exemplaren zugänglich gemacht wurden.

Lama Govindas umfassende Kenntnis der verschiedenen buddhistischen Traditionen, die er als aufeinander aufbauende und sich ergänzende Systeme betrachtete, ließ ihn jede einzelne Schulrichtung zutiefst wertschätzen. Er war den zu seiner Zeit im Westen vorhandenen Erkenntnissen über den tantrischen Buddhismus weit voraus, als er 1956 sein bahnbrechendes Werk Grundlagen tibetischer Mystik veröffentlichte, das dem Westen die faszinierend fremde Geisteswelt Tibets zu einer Zeit zugänglich machte, als diese Kultur noch als eine entartete Form der „reinen“ Buddha-Lehre und eine wilde Mischung aus Dämonenverehrung, Magie und idyllischem Shangrila galt. Hierin klärte Govinda zahlreiche Missverständnisse auf, die bislang die ernsthafte wissenschaftliche Erforschung des tantrischen Buddhismus verhindert hatten. Seine spirituelle Autobiografie Der Weg der weißen Wolken (1966) war für die meisten Menschen im Westen der Türöffner zum tibetischen Buddhismus.

Mit seinen Werken Einsichten eines Pilgers im Himalaya, Buddhistische Reflexionen sowie postum Das Buch der Gespräche und seiner Vortragstätigkeit gelang es ihm meisterhaft, westlichen Lesern einen Zugang zur Bilderwelt des tantrischen Buddhismus mit ihrem Pantheon unzähliger Buddhas und Bodhisattvas – Verkörperungen unterschiedlicher Aspekte des erwachten Geistes – zu eröffnen. Darin weist er darauf hin, dass diese Bilder, die der schöpferischen Kraft des Geistes entspringen, zu einem überaus weise gestalteten System gehören, das die vollkommene Buddhaschaft vorwegnimmt, damit die Übenden kontinuierlich auf dieses Ziel hin fortschreiten und so mit diesem eins werden. Und er zeigt exemplarisch die tiefe Bedeutung auf, die Mantras im Vajrayana, ursprünglich Mantrayana genannt, haben. Darüber hinaus hat es Govinda auf einzigartige Weise verstanden, die Ganzheit der buddhistischen Überlieferung in ihrer Essenz und Verflochtenheit zu erfassen und zu vermitteln. Damit hat er seinen Schülern nicht nur einen immensen Reichtum zugänglich gemacht, sondern sie auch aufgefordert, ja verpflichtet, sich diesen Reichtum durch intensive Studien und Meditationen immer tiefer zu erschließen.

Lama Govinda (links) bei einer Puja am Manosarowar See in Tibet (Tsaparang-Expedition 1947)
© AMM-Archiv

Gibt es 30 Jahre nach dem Tode dieses „Brückenbauers zwischen Ost und West“ noch etwas Wichtiges über ihn zu sagen? Sind seine Bücher noch zeitgemäß? Kritiker haben ihm vorgeworfen, dass er den tibetischen Buddhismus, dem er den Großteil seiner Bücher widmete, romantisch verklärt und die Wirklichkeit ausgeblendet habe. Es mag sein, dass seine magisch anmutende Sprache so manchen Leser nur verzaubert hat. Wer Lama Govinda jedoch gründlich studiert bzw. seinen Unterweisungen gut zugehört hat, weiß sehr wohl, dass er weder zu blinder Bewunderung noch zu vernichtender Kritik neigte, sondern klar zwischen Oberflächlichem und Tiefgründigem unterschied. Er war ein Vor-Denker, der nach Wegen zu einem „Lebendigen Buddhismus im Abendland“ suchte und in dem 1986 erschienen gleichnamigen Buch leidenschaftlich die Bedeutung einer verwandelnden meditativen Erfahrung hervorhebt und den Nutzen bloß äußerlich ablaufender Rituale infrage stellt. Auch in Schöpferische Meditation und multidimensionales Bewusstsein (Neuauflage als Buddhistische Wege in die Stille) betont er nachdrücklich den kreativen Aspekt der Praxis im meditativen Erleben, plädiert für das Vertrauen in die eigene Erfahrung und rät ab von einer bloß formelhaften Reproduktion meditativer Abläufe ohne tieferes Verständnis.

Auch wenn nach dreißig oder mehr Jahren die Erinnerung an diesen großen Menschen vielleicht zu verblassen beginnt, sollten doch die Werte, die er verkörperte, lebendig bleiben. Wer Lama Govinda persönlich begegnete, war berührt von seiner mit Würde gepaarten Bescheidenheit, seiner Festigkeit, Klarheit und Gelehrsamkeit, die „nicht belehrte, sondern inspirierte“, seiner Genügsamkeit, mit der er sich an den einfachsten Dingen des Alltags und besonders an der Schönheit der Natur erfreute, seinem stets wachen und Anteil nehmenden Geist, mit dem er sich Schülern und Besuchern unvoreingenommen und interessiert zuwandte, seiner Disziplin, die es ihm ermöglichte, mit unermüdlichem Fleiß bis in sein letztes Lebensjahr zu studieren, zu schreiben und zu malen. Am tiefsten berührten mich jedoch die Liebe und Güte, mit der er sich Mensch und Tier zuwandte und die nur dann strenge Züge annehmen konnte, wenn sich einer seiner engeren Schüler in spekulativen Ansichten verlor.

Die zentrale Übungspraxis Lama Govindas war der Weg der Bodhisattvas. Der Bodhisattva und zukünftige Buddha Maitreya war ihm lebendig wirkende Wirklichkeit sowie Hoffnung und Gewissheit, dass die weise Entfaltung von Liebe, Güte und Mitgefühl eine mitleidlose Welt verändern kann. Govinda war Zeitzeuge zweier Weltkriege, als die Völker im Hass versanken, und er sah die Bedrohung der Menschheit durch die unermessliche Gier nach Reichtum und Macht im 21. Jahrhundert voraus. Appelle an die Vernunft haben diese Entwicklung bis jetzt nicht verhindern können. Er hatte immer die Hoffnung, dass die Lehren des tantrischen Buddhismus dazu beitragen werden, unsere Geistesgifte in Weisheit zu verwandeln, haben sie es doch schon einmal vermocht, ehemals wilde, kriegerische Völker in spirituelle Gesellschaften zu verwandeln, in denen nicht Macht und Besitz, sondern Weisheit, Liebe und Mitgefühl als höchste Werte gelten.

Viele Westler suchten ihn in den 1960er-Jahren im Kasar Devi Ashram bei Almora, Indien, auf und verdanken ihm nach eigenen Aussagen wesentliche Anstöße für ihr Denken und weiteres Forschen. Lama Surya Das, Leiter des Dzogchen Center in den USA, schreibt im Vorwort zu In den weißen Wolken, das 2008 erschien: „Wir, die ihm so vieles verdanken, bleiben hinter ihm zurück wie kleine Beiboote, die dank … seiner bahnbrechenden Bestrebungen bis heute in die richtige, zum Ziel führende Richtung mitgezogen werden. Lama Govinda war der erste Lama aus dem Westen, und zu seinen Lebzeiten wurden ihm seitens der Tibeter volle Anerkennung und großer Respekt zuteil. … Ich bezweifle, dass es … auch nur einen einzigen einflussreichen Amerikaner gab, der nicht Lama Govinda gelesen hatte und von ihm inspiriert worden war: von seinem Leben, seinen Schriften; von seinen persönlichen Unterweisungen und seiner Kunst; von der Bescheidenheit und der Ruhe, die er an den Tag gelegt hat; und nicht zuletzt von seiner würdevollen, Achtung gebietenden Wesensart.“

* Ein Mensch, der alle oder die meisten Besitztümer und weltlichen Verantwortungen aufgibt, um sich ganz der buddhistischen Praxis zu widmen. Eine Zwischenstufe zwischen Laie/Laiin und Mönch/Nonne.

Vajramala

Vajramala leitet den Mahakala Ashram am Bodensee, war lange Jahre Vorsitzende der DBU und ist nun deren Ehrenrätin.

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