Die Zukunft des Todes – Überlegungen zum Hirntod

Ein Beitrag von Linus Geisler veröffentlicht in der Ausgabe 2016/3 Vom Leben und Sterben unter der Rubrik Vom Leben und Sterben.

„Tot ist tot“, sagt der Volksmund – doch so einfach ist es nicht. In den vergangenen Jahrzehnten gab es, ermöglicht durch die technischen Möglichkeiten der Intensivmedizin, massive Um- und Neudefinitionen des Sterbeprozesses und des Todes. Diese Entwicklung, ihre ethischen Implikationen und möglichen Zukünfte zeichnet der folgende Beitrag des medizinethisch engagierten Arztes Linus Geisler nach. Erstmals publiziert wurde sein Text, den wir für BUDDHISMUS aktuell leicht gekürzt haben, bereits vor zehn Jahren – doch seine Überlegungen bleiben von unverminderter Aktualität. Erst 2012 wurde das deutsche Transplantationsgesetz umgeschrieben, ausdrücklich mit dem Ziel, die Organspendebereitschaft in der Bevölkerung zu erhöhen. Und im vergangen Jahr gab die Bundesärztekammer ihre Krite-rien zur Hirntoddiagnostik neu heraus. Denn tot ist nicht tot: Tod wird kulturell definiert und erzeugt. Die Frage ist: Wer darf definieren?

© ovokuro, photocase.de

Noch nie wurde der Tod – so wird behauptet – so sehr verdrängt, ausgesperrt, ausgetrickst wie in unserer Zeit. Zum Sterben werden die meisten Menschen in institutionelle Exklaven (Krankenhäuser, Altenheime) ausgelagert oder sterben, selbst in Großstädten, bisweilen unbemerkt. Die Toten geraten immer mehr aus dem Blickfeld. Die Zahl anonymer Bestattungen wächst sprunghaft. Seebestattungen, die keine Gedenkkultur mehr erlauben, kommen mehr und mehr in Mode. Die Belegzeiten der Gräber werden kürzer. Es gibt keine „ewigen“ Grabstätten mehr. Der Sarg mit dem Leichnam wird sofort geschlossen. Eventuell kann der Tote noch hinter Glas angeschaut werden. Jeder Körperkontakt wird unterbunden. Eine Aufbahrung im Sterbehaus kommt kaum mehr vor.

IN DEN MEISTEN KULTUREN GAB ES ZWISCHEN TOD UND BESTATTUG EINE ZEIT DER BESINNUNG UND DER ABLÖSUNG

In den meisten Kulturen gab es zwischen dem Tod eines Menschen und seiner Bestattung eine Wartefrist, eine Zeit der Besinnung und der Ablösung von dem Verstorbenen1. In dieser Zeit wurde der Verstorbene nicht selten wie ein Lebender versorgt. Man brachte ihm Speisen und Getränke und leistete ihm Gesellschaft. Im alten Griechenland, so berichtet Herodot, wurden die Toten drei Tage aufgebahrt, bevor man sie beerdigte. Noch länger war diese Zeit der Achtung und Schonung des toten Körpers bei den Römern. Der Körper wurde am achten Tag verbrannt und die Asche am neunten Tag zu Grabe gelegt. Im Bardo Thödol, dem Tibetischen Totenbuch, wird subtil jener Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt beschrieben, der bis zu 49 Tage dauern kann. In Dänemark durfte noch 1966 ein Verstorbener erst nach Ablauf von mindestens sechs Stunden aus seinem Sterbebett genommen werden. Die Zeit des Abschied-nehmens wurde nicht auf drängende Viertel- und Halbestunden zusammengepresst. Die symbolische „Minute“ einer scheinbaren Tatenlosigkeit nach dem Tode, die den Toten vor möglichen Zugriffen bewahrt, ist aus keiner Sterbekultur wegzudenken.

FORTSCHREITENDE MEDIZINISCHE TECHNOLOGIEN HABEN DIE GRAUZONE ZWISCHEN LEBEN UND TOD IMMER WEITER AUSGEDEHNT

Die sattsam wiederholte Behauptung von der gegenwärtigen Verdrängung des Todes steht in erstaunlichem Widerspruch zu der offensichtlich breit gefächerten Befassung mit dem Tod in den verschiedensten Sujets: Sterbehilfe, Euthanasie, Nahtod-Erlebnisse, esoterische Ratgeber für gelungenes Sterben, Belletristik, Talkshows und schließlich der Expertenstreit zwischen Theologen, Anthropologen, Philosophen, Juristen und Medizinern über jenen Zeitpunkt, ab dem der Mensch rechtlich angeblich zum herrenlosen, verfügbaren Gut geworden ist.2 Todesvergessenheit oder Todesversessenheit? Oder beides zugleich? Vielleicht eine höhere Form der Todesverleugnung? Vieles spricht dafür. Sicher ist, dass heute die Thematisierung des Todes weniger von metaphysischem Grauen als von utilitaristischer Pragmatik bestimmt wird.

Fortschreitende medizinische Technologien haben die Grauzone zwischen Leben und Tod immer weiter ausgedehnt. So erscheint der Hirntod heute als ein durch Intensivmedizin zeitlupenhaft auf Stunden und Tage, gelegentlich auf Monate („chronic brain death“), zerdehnter Ablauf im Sterbeprozess. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatte noch niemand einen „Hirntoten“ gesehen.3 Die Technik hat diese Grauzone nicht erschaffen, sondern sie nur so weit überdehnt, dass sie unserer Wahrnehmung zugänglich geworden ist.

ES BESTEHT DIE GEFAHR, DASS DER PROZESS DES STERBENS BEREITS MIT DESSEN ENDPUNKT VERWECHSELT ODER ABSICHTLICH UMGEDEUTET WIRD

Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Es besteht die Gefahr, dass der Prozess des Sterbens bereits mit dessen Endpunkt  verwechselt oder absichtlich umgedeutet wird. Man wird an  die Lessing’sche Fabel vom alten Wolf erinnert, der dem Schäfer verspricht, sich nur von toten Schafen zu ernähren. Doch  der Schäfer durchschaut ihn: „Ein Tier, das mir schon tote  Schafe frisst, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot  und gesunde für krank anzusehen.“4 Das unumkehrbare Versagen des Gehirns ist – so viel wir heute zu wissen glauben – die zum Tode führende Erkrankung. Die Einbindung des Sterbenden in ein Zusammenwirken von Apparaturen verschleiert  die Grauzone zwischen Leben und Tod. Der Tod wird „zum  Binnenereignis innerhalb des Apparates“ schreibt Günter Anders.5 Die phänomenologische Verwischung von noch sicher Lebenden und sich schon im Stebeprozess Befindenden eröffnet ein immer weiteres Feld für definitorische Übungen mit schwindender Beweiskraft. Wortkonstruktionen von bemerkenswerter Gewundenheit, wie „hirntoter, beatmet noch überlebender übriger Körper“, kurz gesagt ein „Hirntod-Körper“6, enthüllen als sprachlicher Spagat das anthropologisch dahinter liegende Paradoxon und erweisen sich als hermeneutische Blindgänger.

DIE VERSUCHUNG WÄCHST, DEN ZEITPUNKT DES TODES STÄNDIG VORZUVERLEGEN – FORSCHUNG AN HIRNTOTEN IST LÄNGST KEIN PHANTOM MEHR

Der Spielraum, in dem sich eine Todesdefinition finden und begründen lässt, wird immer größer. Die Versuchung wächst, den Zeitpunkt des Todes ständig vorzuverlegen. Damit wächst das begehrte Quantum an restlichem Leben, bei bereits erklärtem Tod. Dieser „Lebensrest“ gewinnt zunehmend an Attraktivität. Solche „Toten“ haben nicht mehr die Rechte von Lebenden, aber weitgehend ihre Funktionen. Ihre Organe sind lebensfrisch, ihr Stoffwechsel erlaubt Experimente, die sonst von keiner Ethikkommission abgesegnet würden. Die Forschung an Hirntoten ist längst kein Phantom mehr. An der Universität von Pittsburgh existiert bereits seit 2002 ein Komitee zur Überwachung der Forschung mit Toten.7

Das hartnäckige Bemühen, das Hirntodkonzept von jeder anrüchigen Nähe zur Organtransplantation fernzuhalten, wird von der klinischen Realität konterkariert. In dieser ist der Hirntod wie ein siamesischer Zwilling untrennbar mit der Legitimation zur Organentnahme verbunden. Dieses der Transplantationsmedizin anhaftende Unbehagen begleitet sie als enervierende Dissonanz. Ein Unterton der Verzweiflung klingt in der Frage des Bostoner Medizinethikers Robert Truog an, mit der er einen berühmt gewordenen Artikel überschrieben hat: „Ist es nicht Zeit, den Hirntod aufzugeben?“8 Sollten wir nicht bescheidener werden, schlägt er vor, und uns rein pragmatisch damit begnügen, einfach festzulegen, wann ein Mensch „tot genug ist“, um lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden, ihm Organe zu entnehmen, sein Testament zu vollstrecken oder ihn einzuäschern. Das Verschwinden des Todes zugunsten der Bestimmung zweckgebundener Zustände? Aber genau dieses Bemühen dekuvriert das fundamentale Problem: Wie kann man den Hirntod aufgeben, wenn er deckungsgleich mit dem Tod des Menschen sein soll?

NACH DEN HARVARD-KRITERIEN WÄRE DIE DIAGNOSE DES HIRNTODES IN DEUTSCHLAND HEUTE IN DEN MEISTEN FÄLLEN NICHT HALTBAR

Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass der Hirntod als Kriterium erhebliche Unschärfen aufweist. Wer redlich ist, muss eingestehen, dass Handlungsoptionen, die auf diesem Begriff gründen, sich schwerlich verallgemeinern lassen. Die Richtlinien der Harvard-Kommission zur Hirntoddiagnostik von 1968, sozusagen der Urkodex der Transplantationsmedizin, setzten – im Gegensatz zu den heute bei uns gültigen Kriterien – völlige Reflexlosigkeit für den Nachweis des Hirntodes voraus.9 Nach diesen Kriterien wäre die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in den meisten Fällen nicht haltbar. Betrachtet man die Länder der Erde, so sind dutzende verschiedener Kriteriengruppen für die ärztliche Feststellung des Hirntodes in Gebrauch – von einer klaren, eindeutigen Definition kann also keine Rede sein.

DIE VORSTELLUNG VOM GEHIRN ALS DEM OBERSTEN STEUERUNGSORGAN GILT AUS SICHT NAMHAFTER HIRNFORSCHER ALS WIDERLEGT

Den Hirntod als Tod des Menschen zu definieren basiert auf der Grundannahme, das Gehirn sei das zentrale Steuerungsorgan des Körpers. Doch aus biologisch-systemtheoretischer Sicht entsteht Leben durch die Fähigkeit zur Selbstherstellung (Autopoiese) und Selbsterhaltung. Sie sind das Resultat der Interaktion physikalisch-chemischer Komponenten in einem autopoietischen Netzwerk ohne ein lokalisierbares zentrales Steuerungsorgan. Das Leben hört auf, wenn dieses Netzwerk der gegenseitigen Herstellung und Erhaltung zusammenbricht. Dies ist der Fall, wenn konstitutive Organe wie Herz, Gehirn, Nieren oder Leber ersatzlos ausfallen.

Die These von der übergeordneten integrativen Funktion des Gehirns wird im Falle hirntoter Schwangerer, wie sie in der medizinischen Literatur der letzten Jahre mehrfach dokumentiert wurden, völlig infrage gestellt. Solche Schwangeren sind als „Tote“ imstande, in ihrem Leib einen Fetus zu ernähren, ihn gedeihen und sogar bis zu ungestörter Lebensfähigkeit heranreifen zu lassen. Die Schwangeren werden auf den Status eines „Brutkastens“ reduziert, der lediglich den Fetus mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt.10 Die Plazenta befindet sich jedoch nicht in einem  Vakuum oder einem künstlichen Uterus, sondern in einer lebenden Frau.

ES IST NICHT SINNVOLL, DEN TODESBEGRIFF ALLEIN EINER NATURWISSENSCHAFTLICHEN DEUTUNGSHOHEIT ZU ÜBERLASSEN

Die Ausblendung kultureller Deutungsmuster des Todes zugunsten einer rein naturwissenschaftlich begründeten Definition muss zwangsläufig zu unlösbaren Konflikten im Todesdiskurs führen. Der Medizinhistoriker Thomas Schlich hat deutlich gemacht, dass es nicht sinnvoll ist, in der Auseinandersetzung um den Tod des Menschen eine scheinbar eindeutige Zäsur zwischen Natur und Kultur ziehen zu wollen.11 Im Mittelalter konnten Menschen, die sich noch nicht einmal im Sterbeprozess befanden, wie beispielsweise Aussätzige, zu Toten erklärt, entrechtet und aus den Städten vertrieben werden. Lange Zeit war es in jüdischen Gemeinden in Osteuropa üblich, für einen mit dem Tode ringenden jungen Menschen virtuell „Jahre zu sammeln“, indem Gemeindemitglieder sich bereit erklärten, auf Wochen, Monate oder Jahre ihres eigenen Lebens zu verzichten – sozusagen das Gegenszenario des hirntoten jungen Menschen, der als Quelle zusätzlicher Lebenszeit für die Mitglieder einer Gesellschaft dient. Die Zukunft des Todesbegriffes könnte sich in enger Bindung an den Primat einer naturwissenschaftlichen Deutungshoheit entwickeln, während soziokulturelle Sinndeutungen zurückgedrängt werden. Die Frage wäre dann nicht mehr „Was können wir für Tote tun?“, sondern „Was können wir mit ihnen machen?“.

DIE ZUKUNFT DES TODES IST UNGEWISS

Die Zukunft des Todes ist ungewiss. Werden die Naturwissenschaften unter Ausblendung des soziokulturellen Kontextes weiter über das Deutungsmonopol verfügen, ist ein kaum absehbarer Spielraum für Definitionen und Szenarien zu erwarten. Erfüllt sich jedoch die Vision, dass die Organtransplantation als einzige Therapieform, die immer an Eingriffe in die Leiblichkeit des Anderen gebunden ist, durch wirkliche Fortschritte der Medizin überholt sein wird, dann könnten sich die Sichtweisen auf den Tod grundlegend ändern. Ob die Medizinhistorie einmal auf die Ära der Organtransplantation als glorreiche oder düstere Epoche zurückblicken wird, sei dahingestellt. Denkbar aber wäre, dass in Zukunft jene symbolische „Minute“ einer scheinbaren Tatenlosigkeit nach dem Tode wieder Eingang in die Sterbekulturen findet.

ANMERKUNGEN:

  1. L. S. Geisler: „Organtransplantation aus medizinischer Sicht – ethische, gesundheitspolitische Fragestellungen und gesellschaftlicher Rah-men“, Wege zum Menschen, Nr. 48/1996, S. 211–224, im Internet auf www.linus-geisler.de/artikel/9605fwzm_organtransplantation.html
  2. W. Schoeppe: „Der Leichnam gesetzlich ein herrenloses Gut“, FAZ, 22.7.1994, S. 8
  3. J. Hoff u. J. in der Schmitten J (Hrsg.): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium, Rowohlt 1994, S. 155
  4. G. E. Lessing: Fabeln, 1759
  5. G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II. München 1988, S. 247
  6. J. F. Spittler: „Der Hirntod – Tod des Menschen. Grundlagen und medizinethische Gesichtspunkte“, Ethik Med, Nr. 7/1995, S. 128–145
  7. U. Eberle: „Forschung am Sterbebett“, Die Zeit, Nr. 24, 9.6.2005
  8. R. D. Truog RD: „Is it time to abandon brain death?“ Hastings Center Report, Nr. 27/1997, S. 29–37
  9. Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death: „A definition of irreversible coma“, JAMA, Nr. 205/1968, S. 337–342
  10. F. S. Oduncu: „Der Hirntod als Todeskriterium – Biologisch-medizi-nische Fakten, anthropologisch-ethische Fragen“, Medizinstrafrecht, 1998, S. 199
  11. Th. Schlich: „Scheintote und Wiedergänger. Eine unsichtbare Grenze: Die Todesfeststellung zwischen Biologie und kulturellen Deutungs-mustern“, Frankfurter Rundschau, 27.3.2001

Linus Geisler

Linus Geisler, Professor Dr. med., war Professor an der Universität Bonn, 24 Jahre lang Chefarzt am St.-Barbara-Hospital in Gladbeck/Ruhrgebiet und ist als Experte in Ethikkommissionen tätig. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Kommunikation und Bioethik.

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