Das spirituelle Heldenzeitalter ist vorbei

Ein Interview mit Bernhard Pörksen geführt von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2019/1 Wachsen unter der Rubrik Im Gespräch.

Wie es kommt, dass gerade jetzt so viele Gurus entzaubert werden, ob es Muster im Vertuschen von Missbrauch gibt und ob es künftig überhaupt noch Vorbilder geben kann, über diese und weiterführende Fragen äußert sich der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Gespräch mit Ursula Richard.

© Anatoli Styf, shutterstock.com

Ursula Richard: In einem in der ZEIT erschienenen Beitrag mit dem Titel „Entzauberte Gurus“ sprechen Sie davon, dass das religiöse und spirituelle Heldenzeitalter zu Ende gehe. In den letzten Jahren sind ja auch etliche buddhistische Gurus entzaubert worden. Wieso geschieht das gerade in den letzten Jahren so häufig?

Pörksen: Ich behaupte, dass dies wesentlich ein Medieneffekt ist, denn im Zeitalter digitaler Vernetzung ist die gerade noch fraglos erscheinende Macht des Gurus oder Meisters angreifbar wie nie. Auf einmal können sich alle barrierefrei zuschalten, Petitionen formulieren, auf Blogs und Prangerseiten davon berichten, was ihnen widerfahren ist und was man ihnen angetan hat. Was wir momentan im tibetischen und japanischen Buddhismus und gleichzeitig in zahllosen Yogaschulen und Gemeinschaften rund um die Welt erleben, ist eine untergründige Implosion von spiritueller Autorität.

Das heißt: Wir wissen zu viel …

… um noch fraglos verehren zu können. Das ist eine in ihrer Gesamtheit noch gar nicht verstandene Dynamik, weil wir im erschütterten Blick auf den einzelnen Fall die allgemeine Tendenz nicht erkennen, die Richtung der medialen Evolution. Man muss sich klar machen: Aura, Charisma und spirituelle oder auch weltliche Autorität sind stets auch ein Resultat gelingender Informations- und Kommunikationskontrolle, die jedoch zunehmend weniger möglich ist. Das einsame Tal, das abgeschlossene Kloster, die nur für ein begrenztes Publikum sichtbare Verfehlung – all das existiert kaum noch im Zeitalter der digitalen Überall-Medien. Ein paar Klicks und wir sehen einen Yoga-Meister, der auf einem Video einer Frau auf den Kopf schlägt, beobachten auf YouTube, wie ein angeblich Erleuchteter ein goldenes Ei erbricht, das er sich vorher in den Mund gesteckt hat. Wir sehen in einer Netflix-Doku (Wild, Wild Country) den vor sich hin schwankenden Guru, zugedröhnt mit Lachgas und Valium, wesentlich an Luxusuhren und seiner beständig wachsenden Rolls-Royce-Flotte interessiert. Wir lesen in Blogs und Foren die erschütternden Berichte missbrauchter Frauen, hören von jungen Tulkus, die in Klöstern von Mönchen geschlagen wurden. Wir erfahren über einen offenen Brief, der in den sozialen Netzwerken kursiert, in welcher Brutalität ein spiritueller Superstar wie Sogyal Lakar Menschen verletzt, ausgenutzt und gedemütigt hat. Wir lesen auf eigens eingerichteten Netzseiten von der Alkoholsucht und den Attacken auf Frauen durch Sakyong Mipham in der Shambala-Gemeinschaft. Wir studieren die aktuellen Enthüllungen über die NS-Vergangenheit von Karlfried Graf Dürckheim und können uns ohne jeden Aufwand mit den Details zu den Sexskandalen der Zen-Meister Eido Shimano und Joshu Sasaki versorgen oder unter dem Hashtag „#metooguru“ auf Twitter immer neue Fälle und Vorwürfe recherchieren. Das heißt in der Summe: Der Heilige wird zur gebrochenen Figur, der Guru zur traurigen, kläglichen, im Extremfall schlicht verbrecherischen Gestalt. Und unvermeidlich rivalisiert nun das Image des Erhabenen mit den eigenen Erfahrungen und den sofort abrufbaren Dokumenten der Demontage und Blamage um die Vorherrschaft über den konkreten Moment.

Lässt sich der Einfluss der digitalen Medienwelt noch genauer und an einem Beispiel zeigen?

Denken Sie nur an den Fall von Eido Shimano. Ganz konkret: Er kam in den 60er Jahren aus Japan in die USA, lehrte kurzfristig auf Hawaii und lebte dort bei dem Zen-Mönch Robert Aitken, der später selbst berühmt werden sollte. Beide entzweiten sich, weil Shimano sich an zwei Schülerinnen vergriffen hatte, die in Folge einen Zusammenbruch erlitten. Aitken verfolgte fortan die Spuren des Missbrauchs, die Shimano zog. Er sammelte Material, er legte ein eigenes Archiv an, er warnte vor den Grenzüberschreitungen, aber er tat es nicht vor einem großen Publikum. Und es gab eben auch keine digitale Öffentlichkeit; die Weltbühne des Netzes existierte noch nicht. Mal sollte ein Zeitungsartikel über die Übergriffe erscheinen, aber dieser wurde aus irgendwelchen Gründen nicht gedruckt. Nahezu vierzig Jahre lang dokumentierte Aitken, was Shimano tat, er schrieb die Geschichten nieder, die missbrauchte Frauen erzählten; er bekam von anderen Material zugesteckt, das er aufbewahrte. Dann übergab er seinen Nachlass einer Universität, darunter auch ein noch verschlossenes Paket, auf dem zu lesen war: „Eido Shimano – nicht öffnen.“ Schließlich stimmte er der Veröffentlichung doch zu … und die Materialien wurden verbreitet und digitalisiert …

… und heute gibt es ein eigenes Netzarchiv zu dem Fall: The Schimano Archive.

So ist es, ja. Seit 2010 findet man hier tausende von Seiten in den unterschiedlichsten Sprachen, zusammengestellt von vielen freiwilligen Helfern und Hinweisgebern. Texte, Videos, Tondokumente (www.shimanoarchive.com). Belegt werden Jahre und Jahrzehnte des Missbrauchs. Das heißt: Im Zeitalter der etablierten Massenmedien und der ungedruckt gebliebenen Zeitungsartikel erschien Schimano weitgehend unangreifbar. Unter den Bedingungen digitaler Vernetzung war seine Reputation jedoch in Rekordgeschwindigkeit zerstört, er selbst als respektable Person erledigt. Man sieht gerade an diesem Fall auch, dass das Publikum heute selbst medienmächtig geworden ist – und selbst Öffentlichkeit herstellen kann. Dieses Publikum ist zum neuen Player geworden. Und es ist nicht mehr auf das Interesse etablierter Gatekeeper in Gestalt von Journalistinnen und Journalisten angewiesen, die am Tor zur öffentlichen Welt darüber entscheiden, was publiziert werden sollte – und was eben nicht.

Ganz allgemein gefragt: Ist all dies gut oder schlecht?

Im Letzten ist diese Transparenz und die neue Medienmacht der Opfer unbedingt zu begrüßen. Die Frage wird jedoch sein, ob ein radikal ernüchterter Idealismus überlebensfähig ist. Ob die vielen von Skandalen erschütterten Gemeinschaften, Klöster und Zentren einfach zerfallen. Und einfach nur jede Menge Depression und Desillusionierung zurückbleibt.

Hier in Deutschland hat der Fall der Odenwaldschule sehr viel Aufsehen erregt – eine freie Schule, die über Jahrzehnte als Vorzeigeeinrichtung galt und heute nach Missbrauchsskandalen geschlossen ist. Das Interessante scheint mir: Hier gab es, soviel ich weiß, einen Beitrag in der Frankfurter Rundschau, der von den skandalösen Vorfällen dort berichtete, aber vollkommen wirkungslos blieb. Erst zehn Jahre später erreichte der Skandal dann eine breitere Öffentlichkeit und ließ sich nicht mehr in die Büchse der Pandora zurückversenken. Auch bei den Skandalen um buddhistische Lehrer gab es meist lange Vorgeschichten, und man fragte sich oft, was denn noch alles passieren oder besser bekannt werden müsse, damit das, was da jeweils an die Öffentlichkeit gelangte, Konsequenzen zeitigen würde. Gibt es Ihrer Meinung nach Aspekte, die all diesen unterschiedlichen Ereignissen (in den buddhistischen, christlichen Institutionen, der Welt des Sports, Kultur und so weiter) gemeinsam sind und dann für den Umschlagpunkt oder den point of no return sorgen?

Ja, es braucht stets das Zusammenspiel von fünf Faktoren. Zum einen ist es – im Sinne der Medienlogik – wichtig, dass Opfer mit Namen und Gesicht ihre Stimme erheben; das erzeugt Dominoeffekte der wechselseitigen Ermutigung und des befreienden Zuhörens, die lange Beschwiegenes und Verdrängtes emporspülen. Zum anderen sind hartnäckig recherchierende, mutige Journalisten notwendig, die die Vorwürfe verifizieren, sie in den etablierten Medien bekannt machen und bereit sind zum publizistischen Langstreckenlauf, denn eine solche Berichterstattung braucht Zeit. Journalisten haben – als die ersten Berichte über den massiven Missbrauch in der Odenwaldschule aufkamen – in einer Mischung aus Bequemlichkeit, Unglauben und der Furcht, die einflussreichen Gurus und Schönsprecher der Reformpädagogik mit einem solchen Ekelthema zu beschädigen, schlicht und einfach nicht genau genug hingeschaut. Darüber hinaus müssen mutige Einzelne aus dem Innern der angegriffenen Institution ihrem Gewissen folgen – und die Aufklärung ohne übertriebene Rücksicht auf das Schicksal der Täter und vergangene Loyalitäten weiter vorantreiben. Solche „Inside-Outsider“ sind enorm bedeutsam, das zeigt sich immer wieder. Im Falle der Odenwaldschule fiel der eher neuen, in der reformpädagogischen Szene ziemlich isolierten Schulleiterin diese Rolle zu. Sie hat sich entschieden, erst einmal zuzuhören, um dann die Aufklärung mit Mut weiter zu forcieren. Auch muss sich die Unterstützer- und Sympathisantenszene, die vielleicht gerade noch über fiese Journalisten und den „Missbrauch des Missbrauchs“ lamentiert hat, neu sortieren und positionieren. Schließlich braucht es, damit das Thema nicht gleich wieder versandet, eine wache Öffentlichkeit, die gesteigerte Sensibilität des Publikums. Diese Sensibilität war, um erneut auf die Odenwaldschule zurückzukommen, in der zweiten Enthüllungswelle 2010 durch die dramatischen Missbrauchsskandale der katholischen Kirche in den USA und Irland gegeben, über die weltweit berichtet wurde.

Lassen sich Muster in der Entzauberung des Gurus erkennen? Auch im Hinblick auf die Reaktionen der Institutionen, denen der Guru vorstand oder in die er eingebettet war, von denen er meist ja auch jahrelang geschützt wurde?

Die gängige Reaktion in der Phase des institutionellen Selbstschutzes und des institutionellen Narzissmus sieht zunächst folgendermaßen aus: Man versucht, das eigene Image zu retten, den Skandal aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, spielt ihn intern herunter, warnt vor der Verbreitung von unbewiesenem Klatsch, bezahlt wahlweise Schweigegeld oder diskreditiert die Opfer als unglaubwürdig und psychisch labil, versucht, sie einzuschüchtern, und reagiert auf zunächst noch vereinzelte Medienberichte, indem man Journalisten Sensationsgier und Schmutzkampagnen unterstellt. Wenn man sieht, dass das nicht funktioniert, folgt die Phase einer häufig einigermaßen diffusen Reuebekundung durch den Meister selbst, das öffentlich zelebrierte Reinigungsritual. Der Meister signalisiert dann innere Einkehr und eine Zeit des Rückzugs, der Selbsterforschung. Er sagt, dass er verzweifelt sei, dass er, womöglich ohne es gewollt zu haben, Schülerinnen und Schüler verletzt habe. Hier wird, eben das ist zumeist das Unbefriedigende und offenkundig Strategische solcher Demutsgesten, die Existenz von Verletzungen bis hin zum Verbrechen einer Vergewaltigung zum Wahrnehmungsproblem der Opferseite umgeschminkt. Was eigentlich vorgefallen ist, bleibt – längst lesen ja die Anwälte jedes Satzzeichen mit – einigermaßen wolkig. Aber es tut dem Meister leid, wenn sich jemand verletzt fühlt, denn er liebt ja seine Schüler mehr als sich selbst! Ob es dann zu einer objektivierenden Rekonstruktion kommt, man beispielsweise ein unabhängiges Anwaltsbüro mit der Klärung der Vorwürfe und der Veröffentlichung der Rechercheergebnisse beauftragt, hängt von den Machtverhältnissen innerhalb der Institution ab. In der Regel streitet hier die Fraktion der Aufklärer mit der Gruppe der Vertuscher und Verniedlicher, die womöglich fürchten müssen, im Strudel des Skandals ihren Einfluss und die eigene Existenzgrundlage zu verlieren.

Noch mal nachgefragt: Gibt es Muster, die Ihrer Auffassung nach die Vertuschung von Missbrauch in spirituellen Gemeinschaften begünstigen?

Die gibt es, ja. Das Unfehlbarkeitsideal ist fatal, weil für den spirituell Suchenden, wenn er die Versäumnisse des Meisters erkennt, gleich alles auf dem Spiel steht, der gesamte Sinnkosmos scheint bedroht. Wenn der Guru sich als fehlbar erweist, ist dann womöglich alles Lüge? Darüberhinaus wird die Verbindung zum Meister in manchen Gemeinschaften so sehr als eine Art heiliges Band mystifiziert, dass eine Auflösung gar nicht infrage kommt oder eben als eine Art karmisches Desaster gesehen wird, das es unbedingt zu vermeiden gilt. Das gibt auch jenen Macht, die die sexuelle Unterwerfung als ein Privileg und ein Zeichen der Hingabe ausgeben, das die Schülerin irgendwie auf dem Weg zur Erleuchtung weit nach vorne katapultiert. Und schließlich kann auch die eigentlich sinnvolle, in vielen Gemeinschaften gängige Empfehlung, Klatsch und Tratsch und üble Nachrede zu vermeiden, zur Enthüllungsblockade werden: Man reagiert dann auf die verstörende Warnung mit einer Tabuisierung der irgendwie unappetitlichen Kommunikation, setzt sich erst mal mit gesenktem Blick auf das Kissen, beobachtet den eigenen Geist – und signalisiert in Richtung der Überbringer schlechter Botschaften: „Lasst mich in Ruhe mit diesem Dreck!“ Das heißt, auch die Neigung in manchen buddhistischen Schulen, die äußere Irritation zunächst in einen Anlass für die reflektierte Selbstbeobachtung und eine Art Geistestraining zur vorschnellen Urteilsvermeidung zu verwandeln, kann kontraproduktiv sein. Denn manchmal gilt, dass man ganz genau hinschauen und die Vorwürfe eben ganz genau prüfen muss. Und dann mit aller Macht intervenieren sollte, um entsetzliches Leid zu beenden.

Die diesjährige Berlin-Biennale hatte das Motto: „We don’t need another hero“ – wir brauchen keinen weiteren Helden. Vom Tod Gottes sprach schon Nietzsche. Wenn wir keinen Gott mehr haben und uns nun auch die Gurus und Helden abhandenkommen, was bleibt uns dann? Sie sprechen in dem Zusammenhang ja auch vom „Verglühen der Vorbilder“. Was aber können wir mit unserem Bedürfnis nach Vorbildern machen, die für uns glaubhaft das verkörpern, was sie lehren, uns Hoffnung machen, dass tatsächlich erreichbar ist, wofür wir uns anstrengen?

Ich denke, dass sich diese Frage nur individuell beantworten lässt. Mancher wird sich als Reaktion auf die Enttäuschung immer neue Meister suchen, Instant-Ikonen und Helden für den Augenblick, wenn Sie so wollen. Andere werden Möglichkeiten finden, die Enttäuschung zu verdrängen und zu rationalisieren, sie zum Lernanlass umzudeuten, der ihnen hilft, an ihren eigenen Begrenzungen und Blockaden zu arbeiten. Oder aber sie werden den spirituellen Pfad verlassen, sich desillusioniert abwenden. Wieder andere werden einen postmythischen Guru und „menschlichen Meister“ für sich entdecken, dessen Autorität in seiner Authentizität und Nahbarkeit besteht. All dies sind mögliche Reaktionsbilder.

Ist das aber nicht auch eine Chance zum Erwachsenwerden auch im spirituellen Bereich, in dem wir uns ja oft Erlösungssehnsüchte bewahrt haben, die ihre Herkunft aus unserer Kinderwelt kaum verbergen können? Und wie könnte diese erwachsene Spiritualität aussehen oder auf was könnte sie sich ausrichten?

Ich weiß es nicht. Aber natürlich haben Sie Recht: Auf die Entzauberung des Gurus könnte – rein theoretisch – die erwachsene Spiritualität folgen, die das verwundete, aus krummem Holz geschnitzte, aber noch immer gegebene Vorbild als Normalität akzeptiert, letztlich im Meister vor allem den anderen Menschen sieht, der einem manches voraus hat und vieles beibringen kann, der aber keineswegs unfehlbar und allwissend ist. Aber sehen Sie, ich bin einfach nur ein Medien- und Skandalanalytiker ohne spirituelle Spezialkompetenzen. Und als ein solcher würde ich sagen: Im Moment prallen ziemlich infantile Erlösungs- und Verehrungssehnsüchte auf die allgemeine Lust an der Entzauberung und eine grell überbelichtete Welt, in der blitzschnell jede kleinere und größere Verfehlung bekannt wird. Und eben dieses Aufeinanderprallen von Perfektionssehnsüchten, Entlarvungswillen und radikaler Transparenz programmiert die unvermeidliche Enttäuschung, die Pulverisierung von Aura, Charisma und Autorität. 

Eines Ihrer Bücher hat den provokanten Titel Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Es enthält Gespräche mit Heinz von Foerster, einem Vertreter des radikalen Konstruktivismus. Nun hört man im Zusammenhang mit den Enthüllungen über Gurus oft das Argument, dass alles nur Wahrnehmung sei. Das „Opfer“ erlebe Handlungen als, sagen wir, sexuell übergriffig oder nehme bestimmte Berührungen als Schläge wahr und erlebe deshalb bestimmte Dinge als verletzend oder schädigend. Des Gurus Intention sei es aber gewesen, der Person zu helfen (bei der Überwindung des Egos, bei der Erleuchtung oder was auch immer) und ihr nicht zu schaden, er habe also eine ganz andere Wahrnehmung seines Tuns. Und so gibt es Bedauern (seitens institutioneller Repräsentanten des Gurus) nicht über die Tat, sondern darüber, dass das „Opfer“ diese als schädigend wahrgenommen hat. Gibt es Ihrer Meinung nach dann überhaupt eine Tat, eine Wirklichkeit oder eben nur unterschiedliche Wahrnehmungen?

Natürlich, es gibt die Tat. Und die Anklage des Opfers und die Bagatellisierungsversuche des Täters sind nicht gleichermaßen wahr. Das wäre ein Missverständnis des Konstruktivismus, so meine ich. Aber ich muss, um dies zu erläutern, einen Moment ausholen. – Darf ich?

Natürlich, Sie dürfen …

Mein Freund und Mentor Heinz von Foerster war, wie viele Konstruktivisten der ersten Generation, von dem Wunsch beseelt, das Denken gegen den Dogmatismus zu impfen. Er hatte die Nazizeit als sogenannter Vierteljude in Berlin überlebt, er war im Innern erschüttert von dem Schrecken ideologisch verfochtener Wahrheiten und wollte sich doch unter keinen Umständen in den Gegner verbeißen, dem Ideologen durch eine Anti-Ideologie irgendwie ähnlich werden. Also schuf er eine Philosophie des heiteren Aufbruchs, eine Anleitung zum Andersdenken, mehr Kopfnuss und Korrektiv als ein geschlossenes Denksystem, das irgendwie im Anschein des Absoluten stehen bleiben sollte. – Was will ich damit sagen? Der Konstruktivismus, der dann in akademischen Kreisen überraschend Mode wurde, war ihm äußerst verdächtig. Und ich würde hinzufügen: Der Konstruktivismus, den man benützt, um die Wirklichkeit des Missbrauchs zu relativieren, ist selbst zum Dogma geworden, er ist ein Machtmittel, ein Propagandatrick mit vermeintlich erkenntnistheoretischem Anstrich. Ein konsequenter Konstruktivismus sollte, pathetisch gesagt, stets eine Philosophie der Unterlegenen bleiben. Das heißt, man korrigiert die großen und kleinen Ideologien des Alltags, stemmt sich gegen totalitär formulierte Wahrheitsansprüche und praktiziert bei alldem einen fröhlichen Skeptizismus, um mehr zu sehen als zuvor. Das ist aber auch schon alles.

Und doch: Die Behauptung, es gebe keine Wahrheit, nur die individuelle Wahrnehmung, lässt sich zur Abwertung der Opfer benutzen. Das hieße dann, dass ein Sogyal Lakar stets mit guten Absichten gehandelt hat, sich aber nun leider einige Menschen verletzt fühlen. Genauso wird von manchen seiner Anhänger argumentiert. Und was wirklich geschehen ist, bleibt offen. Es geht nur noch um den Austausch über unterschiedliche Wirklichkeitsbilder und Wahrnehmungen. Und jeder ist am Schluss für seine Weltsicht verantwortlich.

Das ist eine Gefahr – und ein Aufruf zur genauen Unterscheidung. Denn natürlich gibt es die Ebene der Fakten, die Wirklichkeit erster Ordnung. Ob jemand geschlagen, über Jahre hinweg drangsaliert und sexuell missbraucht wurde – das lässt sich klären, im Zweifel mithilfe von Polizei und Ermittlern, dann mithilfe des Staatsanwaltes vor Gericht. Die Frage der vermeintlich guten Absichten und der pseudospirituellen Rechtfertigungen bezieht sich hingegen auf die Ebene der Bedeutungen, das ist die Wirklichkeit zweiter Ordnung. Hier gibt es zahllose unterschiedliche Auffassungen; hier regiert der Streit, die mannigfaltige Interpretation, die man dann (aber eben dies ist ein Denkfehler oder der strategisch motivierte Trick) womöglich dazu benützt, um das Geschehen auf der Ebene erster Ordnung selbst zu bezweifeln, frei nach dem Motto: Weil es unterschiedliche Interpretationen gibt, muss auch das Geschehene selbst umstritten sein. Und ganz im Sinne einer persönlich-privaten Bedeutungskonstruktion kann dann jemand behaupten, er verkörpere eben die Tradition der verrückten Weisheit (crazy wisdom), in der alles sowieso nur zum Nutzen der Schüler geschehe. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass solche Ideen – zumal als Reaktion auf einen drohenden Skandal – in der Regel eine weihevoll formulierte Form von bullshit darstellen, also auch von denen, die sie vertreten, nicht wirklich geglaubt werden. Man will sich das womöglich monströse Geschehen irgendwie schönreden, darum geht es. Und dafür ist jedes Mittel recht – ganz gleich, ob man sich eine Erkenntnistheorie zurechtbiegt oder ein „crazy wisdom“-Märchen erzählt, indem dann jede Gemeinheit und jede Grausamkeit ihren guten Sinn hat und wir am Ende des Tages über ein paar verletzte Gefühle streiten.

Man mag oft nicht glauben, dass Verantwortliche in Führungspositionen spiritueller Institutionen jahrelang nichts von dem skandalösen Treiben ihres Gurus mitbekommen haben wollen und ähnlich aus allen Wolken fallen wie vollkommen Außenstehende. Dies wird aber oft von ihnen behauptet. Da ist sicher sehr viel Selbstschutz dabei, aber kann es nicht auch sein, dass die Wahrnehmung einer solch verantwortlichen Person sich so verändert, dass sie wirklich das sieht, was der dort vertretenen Sichtweise entspricht und anderes vollkommen ausblendet? Schon Goethe wusste ja: „Man sieht nur das, was man schon weiß oder kennt.“ Vielleicht gilt ja auch: „Man sieht nur das, was man sehen muss, um noch dazuzugehören.“

Sie sind dann tatsächlich blind.

Ich mache genau diese Beobachtung, wenn ich die Dynamik in spirituellen oder anderen Gemeinschaften analysiere, die von Sex-, Finanz- oder Manipulationsskandalen gebeutelt werden. Es gibt diejenigen, die tatsächlich nur das sehen und sehen konnten, was sie sehen wollten und ohnehin glauben mochten. Sie sind dann tatsächlich blind. Und eben auch blind für die eigene Blindheit. Das kommt vor. Und generell gilt: Je sektiererischer die Gruppe, desto ausgeprägter die selektive Wahrnehmung. Es gibt jedoch, häufiger noch, diejenigen, die etwas ahnen – und das Rumoren im eigenen Innern und den Zweifel und Einspruch der inneren Stimmen unterdrücken, sich das Gesehene schönreden und die kuriosesten Erklärungsbrücken bauen, um der schmerzhaften Schlussfolgerung, der eigentlich notwendigen Erkenntnis und der tatsächlich gebotenen Handlung zu entkommen; man will Gemeinschaft, Zugehörigkeit und die Nähe zum Meister bewahren, also minimiert man die erlebte Dissonanz nach Kräften und mit allen Mitteln. Und da fängt dann das behauptete NichtSehen und Nicht-Wissen an zu schillern, erscheint einem manchmal schlicht als eine zunächst zaghafte und dann umso intensiver praktizierte Form von Selbstbetrug, an die man womöglich eines Tages selbst glaubt.



Wir leben in einer Zeit der Empörung, der schnellen Erregung oder Gereiztheit, der Skandalisierung, wie ein Blick in die (sozialen) Medien zeigt und wie Sie es in Ihrem neuesten Buch Die große Gereiztheit sehr eindrücklich beschreiben. Und wir scheinen immer weniger Beobachtende eines Geschehens zu sein, dafür immer schneller Richtende, die ihre moralische Sicht absolut setzen und zum Maßstab aller Dinge machen. Es scheint mir wichtig und ein Gebot der Stunde, den Mantel des Schweigens, der über Missbrauch in jeder Form, aber auch über verunglimpfende Äußerungen andere Religionen und deren Anhänger betreffend gebreitet ist, wegzuziehen, dieses Verhalten klar zu benennen und daraus auch Konsequenzen zu ziehen. Aber wie können wir dabei selbst Scheinheiligkeit und Eindimensionalität vermeiden? Brauchen wir eine Ethik der Aufklärung im digitalen Zeitalter? Wie könnte sie aussehen?


Das scheint mir eine ungeheuer wichtige Frage. Ich entwickle in diesem Buch – im Sinne eines Vorschlags – eine Bildungsutopie, um selbst nicht nur in der unvermeidlich düsteren Krisenanalyse stecken zu bleiben. Meine Frage war: Wie können wir die ungesunde Sofort-Erregung dämpfen, ein Kommunikationsklima der suchenden Erörterung bewahren und den Balanceakt der Aufklärung in einer Zeit neu fundieren, in der sich jeder, ein Smartphone in der Hand, blitzschnell an die Öffentlichkeit wenden kann? Meine eigene Antwort lautet kurz und knapp: Wir sollten von der digitalen Gesellschaft der Gegenwart zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden. Was ist damit gemeint? In der redaktionellen Gesellschaft sind die Ideale und Maximen des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden. Sie lauten beispielsweise: „Prüfe erst, publiziere später! Sei skeptisch, auch gegenüber deinen eigenen Urteilen! Analysiere die Quellen! Höre immer auch die andere Seite! Agiere transparent im Umgang mit eigenen Fehlern! Achte auf Relevanz und Proportionalität, mach also ein Ereignis nicht größer, als es ist!“ In den Maximen des guten Journalismus steckt, so behaupte ich, eine Ethik für die Allgemeinheit, die heute jeden angeht. Sie sollte in der Schule in einem eigenen Fach gelehrt werden. Weil wir medienmächtig geworden sind, müssen wir nun auch medienmündig werden. Denn was wäre, ernsthaft gefragt, die Alternative? Bevormundung? Immer raffiniertere Gesetze? Die möglichst effektive Kommunikationskontrolle? Für mich sind das letztlich unwürdige, von Aufklärungsmisstrauen und Bildungspessimismus geprägte Vorschläge. Da wollte ich selbst – Optimist aus Prinzip – gegenhalten.

Zum Schluss: Gibt es auch eine Maxime in Fragen des Missbrauchs?


Ja. Man muss, so schwer und schmerzhaft dies ist, irgendwann auch das zunächst Undenkbare für denkbar halten – trotz der eigenen Erfahrungen von Schönheit, Stille und Freundlichkeit. „Erkenne das Andere in seiner Fremdheit und seinem Schrecken“, so könnte man den kategorischen Imperativ der Wahrnehmung formulieren, der hier gilt. „Und dann prüfe genau und unvoreingenommen und handle sofort, um die Opfer zu stärken und künftiges Leid zu verhindern.“

Dieses Interview wird in englischer Sprache Anfang Januar online bei dem US-amerikanischen Magazin Tricycle zu lesen sein. tricycle.org

Buchtipp: Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung, München: Hanser-Verlag, 2018

Bernhard Pörksen

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er erforscht die Macht der öffentlichen Empörung und die Zukunft der Reputation und veröffentlicht – neben wissenschaftlichen Aufsätzen – Essays und Kommentare in vielen Zeitungen. Seine Bücher mit dem Philosophen Heinz von Foerster (Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners) und dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun (Kommunikation als Lebenskunst) wurden Bestseller. Im Jahre 2008 wurde Bernhard Pörksen zum „Professor des Jahres“ gewählt.

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