Das Herz-Sutra

Ein Interview mit Khenpo Karl Brunnhölzl geführt von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2015/2 Meditation unter der Rubrik Im Gespräch.

Das Herz-Sutra gehört zu den wichtigsten Texten des Zen und des tibetischen Buddhismus. Tagtäglich wird es in buddhistischen Klöstern und Zentren rezitiert. Anlässlich seines Besuchs in Berlin hatte Ursula Richard die Gelegenheit, Khenpo Karl Brunnhölzl zur Radikalität des Herz-Sutra zu befragen und wie es für die eigene Meditation genutzt werden kann.

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Buddhismus aktuell: Wie würden Sie das Herz-Sutra charakterisieren?

Khenpo Karl Brunnhölzl: Für Menschen, die das Herz-Sutra noch nicht kennen, ist es verrückt, denn es spricht ständig von kein, kein, kein. Für Buddhisten ist es noch verrückter, weil es nicht nur im Falle normaler Dinge von kein spricht, sondern auch die buddhistischen heiligen Kühe, wie z. B. die Vier Edlen Wahrheiten, Abhängiges Entstehen, Buddhaschaft, Weisheit, und den Achtfachen Pfad mit kein beschreibt. Das gibt es dem Herz-Sutra zufolge auch alles nicht. Insofern ist es im besten Sinne verrückt. Das Herz-Sutra ver-rückt unsere Wirklichkeit. In diesem Verrücken unserer Perspektive steckt die Weisheit. Die Botschaft des Herz-Sutra lautet: Die Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht. Das schließt auch uns selbst ein. Die radikale Botschaft des Herz-Sutra ist die Abschaffung all dessen, was uns lieb und teuer ist. Für viele Menschen ist das nicht nur eine radikale, sondern auch eine schockierende Botschaft. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Wie Trungpa Rinpoche sagte, gibt es nun eine gute und eine schlechte Nachricht: Die schlechte lautet, dass wir in der Situation eines Menschen sind, der aus einem Flugzeug abspringt und merkt, dass er keinen Fallschirm hat. Die gute ist, es gibt keinen Boden, auf dem wir aufschlagen könnten. Wenn wir immer weiter fallen, können wir irgendwann unsere Einstellung dazu verändern, denn dann müssen wir uns auch keine Sorgen machen, dass wir irgendwann irgendwo aufschlagen. Wir können den Flug ohne Angst genießen. Fallen wird so zum Fliegen: Fallen will ja niemand, aber fliegen wollen wir alle. Allein dadurch erweitert sich schon das Bewusstsein. Wenn ich denke, ich falle, ist mein Geist so klein wie eine Stecknadel. Aber wenn ich denke, ich fliege, will ich die Aussicht und Weite genießen und sehe mich um. Das ist die zentrale Botschaft des Herz-Sutra. Wenn etwas nicht so ist, wie es unseres Erachtens sein sollte, müssen wir nicht in Panik geraten, sondern können es als Flug betrachten, bei dem die Dinge nicht feststehen und die Perspektive weit wird.

BA: Im Zen wird das Herz-Sutra oft rezitiert, meist jedoch auf Sino-Japanisch. Das heißt, man versteht nicht, was man rezitiert. Doch wenn man, wie Sie vorschlagen, das Herz-Sutra als Meditationsanleitung nimmt, ist es doch wichtig, es zu verstehen. Wie kann man das Herz-Sutra als Meditationsgrundlage nutzen.

KKB: Es gibt zwei Aspekte im Herz-Sutra. Den ersten möchte ich den energetischen, den zweiten den inhaltlichen Aspekt nennen. Beim energetischen Aspekt kommt es tatsächlich nicht so sehr darauf an, die Worte zu verstehen. Es geht mehr darum, sich mit dem Herz-Sutra in einen geistigen Zustand der Offenheit und des Freiseins von üblichen Bezugspunkten zu versetzen. Beim Rezitieren ist die Sprache relativ egal. Durch den Rhythmus und die anderen Menschen entsteht etwas. Will man jedoch tiefer in den Gehalt eindringen, ist es wichtig, die Sprache zu verstehen. Dafür ist es entscheidend, nicht nur einfach zu rezitieren, sondern innezuhalten und über das Gesprochene nachzudenken. So gestalte ich das Herz-Sutra auf persönliche Weise und passe es an meine persönlichen Bedürfnisse an. Aktuelle Probleme lassen sich damit angehen. Ich kann z. B. sagen, „keine Arbeit,“ „keine Beziehung,“ „kein Geld,“ „kein …“ Das gilt für positive wie negative Dinge. Ich kann sagen, kein … und schauen, was das in meinem Geist auslöst.

BA: Es macht ja einen Unterschied, ob ich auf der konventionellen Ebene Arbeit habe und zu mir sage, keine Arbeit, oder ob ich keine Arbeit habe und dies zu mir sage.

KKB: Beides funktioniert. Ich kann schauen, was es eigentlich für mich bedeutet, keine Arbeit zu haben. Ich kann ebenso schauen, was es bedeutet, Arbeit zu haben, inwiefern sie Teil meiner Identität ist und was ich ohne diese Arbeit wäre. Durch die Rezitation von keine kann ich sowohl Positives wie Negatives in Beziehung zu meiner Identität setzen. Arbeit, Beziehungen, Geld, Haus, Auto und andere Dinge machen normalerweise einen großen Teil unserer Identität aus. Das Leben ändert sich und so kann ich die Rezitation jeweils meinen aktuellen Bedürfnissen anpassen. Dadurch wird die Kontemplation sehr persönlich. Kontempliere ich über die Dinge, an denen ich persönlich sehr hänge bzw. in die ich viel investiere, ist die Kontemplation natürlich viel machtvoller und effektiver, denn dann geht es wirklich ums Eingemachte. Kein Auge, kein Ohr wirkt dagegen auf die meisten eher abstrakt. Es würde wenig Sinn machen, solche abstrakten Dinge zu rezitieren, zu denen mir der persönliche Bezug fehlt. Je persönlicher die Kontemplation, umso größer ist der Effekt. Man kann das Herz-Sutra auch ganz systematisch gestalten, indem man alle Bereiche des eigenen Lebens damit abschreitet. Das mag ungewöhnlich erscheinen, doch sieht man sich die langen Prajnaparamita-Sutren an, tun sie genau das. Hunderte Seiten lang rezitieren sie, kein dies, kein das, sie gehen extrem ins Detail. Das Herz-Sutra ist kürzer und allgemeiner, weil es das Herz, d. h. die Essenz dieser Sutren, ist.

BA: Auf diese Weise kann ich auch darüber kontemplieren, wie sehr ich am buddhistischen Kanon, den Vier Edlen Weisheiten usw. hänge.

KKB: Genau deshalb ist es so radikal, weil ich so auch meine spirituelle Identität hinterfragen kann. Ich kenne keine andere spirituelle Tradition, die sich selbst so negiert.

BA: Sie bezeichnen das Herz-Sutra auch als ein Koan bzw. eine Koan-Sammlung. Was kann man sich darunter vorstellen?

KKB: Man kann sich das Herz-Sutra als eine Art Matrjoschka- Puppe vorstellen. Es selbst ist die große Puppe, das Gefäß für die Koan-Sammlung. Und jede Phrase, die mit kein beginnt, ist die nächstkleinere Puppe. Man kann das Ganze, einschließlich des Mantras, als ein Koan sehen. Man kann aber auch jede Puppe einzeln betrachten und immer mehr in die Tiefe gehen. In jeder Phrase stecken wiederum kleinere Püppchen. Wenn es z. B. heißt, keine Form, ist dies zunächst recht allgemein, denn es gibt ja unendlich viele verschiedene Formen, die man im Einzelnen betrachten könnte. Das Herz-Sutra ist also eine allgemeine Anleitung, die das Prinzip aufzeigt. Es beinhaltet alle samsarischen Kategorien von Phänomenen sowie alle Pfad- und nirvanischen Kategorien getrennt voneinander, sodass man in jede einzelne Kategorie eintauchen kann. So wird die Kontemplation lebendig. Der Endpunkt ist der Geist ohne mich. Dieses Beharren auf dem kein, kein, ist, als wenn man einem Kind ein Spielzeug nach dem anderen wegnimmt. Das können samsarische oder auch spirituelle Spielzeuge sein. Unser ständiger Begleiter, unsere Schmusedecke, ist unser Ego. Das letzte Spielzeug unseres Egos ist das Ich. Dann kann man fragen, was ist mein Geist ohne mich? Das ist das letzte Koan, die allerkleinste Puppe. Man kann sich aber auch jederzeit fragen, ob man sich den eigenen Geist ohne das eigene Ich vorstellen kann. Geht das überhaupt von meiner jetzigen Perspektive aus?

BA: Und wer betrachtet dann den Geist ohne mich?

KKB: Das ist der Sprung vom Geist mit mir zum Geist ohne mich. Der Geist betrachtet sich selbst, ohne Betrachter.

BA: Gehören zu den spirituellen Spielzeugen auch die Meditationsmethoden?

KKB: Ja, auf jeden Fall.

BA: Wo lande ich dann am Ende?

KKB: Das genau gilt es herauszufinden. Wenn es darauf eine Antwort gäbe, wäre sie auch wieder nur ein Spielzeug. Das ist das Irritierende an den Prajnaparamita-Sutren. Sie nehmen einem alles weg, aber sie geben einem nichts.

BA: Aber sie versprechen die Furchtlosigkeit. Thich Nhat Hanh spricht in seinem Kommentar zum Herz-Sutra davon, dass die Furchtlosigkeit das größte Geschenk sei, das das Herz-Sutra uns macht.

KKB: Ja, aber die Furchtlosigkeit ist kein Bonbon, den es zum Schluss als Belohnung gibt. Dann wäre man wieder in der Spielzeugecke. Die wahre Furchtlosigkeit findet dann statt, wenn es keine Bezugspunkte mehr gibt, wenn es nichts mehr gibt, was ich behalten oder loswerden will. Solange es noch etwas gibt, was ich als mein Territorium, als mein Eigentum betrachte oder was mich stört, ist die Furchtlosigkeit noch nicht da.

BA: Grenzenlose Offenheit.

KKB: Offen wie der Raum, der keine Angriffsfläche bietet und niemanden beherbergt, der schädigt oder dem geschadet werden kann. Dann stellt sich wahre Furchtlosigkeit ein. Normalerweise schützen wir uns vor der Angst mit immer höheren Mauern und besseren Alarmsystemen, doch irgendwann erkennen wir, was das mit dem Geist macht: Es entsteht immer mehr Angst. Je größer und stärker die Sicherheitsvorkehrungen sind, desto größer wird auch die Furcht. Die Sicherheitsvorkehrungen vermehren die Furcht, anstatt sie kleiner zu machen. Das Herz-Sutra geht genau den entgegengesetzten Weg; man reißt die Mauern nieder und wirft die Alarmanlage hinaus und merkt, da ist nichts, was irgendjemandem schaden könnte.

Auszug aus dem Herz-Sutra

…Form ist Leerheit. Leerheit ist Form. Leerheit ist nichts anderes als Form. Form ist nichts anderes als Leerheit. Ebenso sind Gefühl, Unterscheidung, Wirkkräfte und Bewusstsein leer. Daher, Śāriputra, sind sämtliche Phänomene Leerheit, ohne Merkmale, ohne Entstehen, ohne Vergehen, ohne Makel, ohne Freiheit von Makel, ohne Abnahme und ohne Zunahme. Daher, Śāriputra, existiert in der Leerheit keine Form, kein Gefühl, keine Unterscheidung, keine Wirkkraft, kein Bewusstsein; kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, kein Körper, kein Geist; keine Form, kein Klang, kein Geruch, kein Geschmack, nichts Spürbares, keine Phänomene; kein Augen-Dhātu bis hin zum Geist-Dhātu, kein Phänomene-Dhātu, kein Geistbewusstseins-Dhātu; keine Unwissenheit, kein Enden der Unwissenheit bis hin zu keinem Altern und Tod und keinem Enden von Altern und Tod; kein Leiden, kein Ursprung des Leidens, keine Beendigung, kein Pfad, keine Weisheit, kein Erlangen und kein Nicht-Erlangen …

Khenpo Karl Brunnhölzl

Karl Brunnhölzl wurde von Dzogchen Ponlop Rinpoche der Titel eines Khenpo verliehen. Er arbeitet als Übersetzer, Dolmetscher und Lehrer für die Tsadra Foundation, Nalandabodhi und das Nitartha Institute. Er ist u. a. Autor von Das Herzinfarktsutra: Ein neuer Kommentar zum Herzsutra.

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