Cyborg oder Buddha 2.0 – Wohin geht der Mensch?

Ein Beitrag von Franz-Johannes Litsch veröffentlicht in der Ausgabe 2018/4 Wohin? unter der Rubrik Wohin?. (Leseprobe)

Unter dem Titel „Cyborg oder Buddha? Der gemachte und der erwachte Mensch“ (1) hat Franz-Johannes Litsch im Jahre 2000, anlässlich des neuen Jahrtausends, in den Lotosblättern, der damaligen Zeitschrift der DBU, einen Aufsatz veröffentlicht, der einen Ausblick auf dieses neue Zeitalter warf. Es ging um die Frage, was für uns Menschen die größte Herausforderung darin sein werde. Seine Antwort war: Das kann nur der Mensch selber sein, seine Zukunft. Denn der Mensch steht heute infrage wie noch nie, und zwar durch sich selbst. Fast zwanzig Jahre später widmet sich Franz-Johannes Litsch erneut diesem Thema.

Längst schon war in jenen Jahren in der Science-Fiction-Literatur und im Hollywood-Film das Thema der biotechnischen, gentechnischen, computertechnischen, robotertechnischen, nanotechnischen Verbesserung, Aufrüstung, Perfektionierung des Menschen präsent. Ja, sogar die Abschaffung des herkömmlichen Homo sapiens und seine Ersetzung durch künstliche Roboter oder Androiden. Längst arbeitete daran auch eine Vielzahl von Wissenschaftlern und Instituten mit Milliarden an Geldmitteln. Zur Jahrtausendwende war das auch in der allgemeinen Öffentlichkeit angekommen und ein heftiger Aufreger.

Dann wurde es viele Jahre still darum, die Sensations- und Erregungsindustrie griff nach anderen Themen. Nachdem nun das Endlosthema „islamische Bedrohung“ allmählich „ausgehetzt“ ist, kommt angesichts des allgegenwärtig gewordenen Smartphones unter dem Schlagwort „Digitalisierung“ die Debatte um die Computerisierung von allem und jedem wieder zurück. Insbesondere über die in wenigen Jahren ins Gigantische angewachsene Macht des Internets und der „neuen Medien“; den Einfluss der „sozialen“ Netzwerke (Facebook, YouTube, Twitter) und der unser Weltbild massiv beherrschenden Suchplattform Google. Sie alle sind indes lediglich Teilbereiche des Riesenkomplexes unzähliger staatlicher und privater Datensammel-, Überwachungs-, Auswertungs- und Steuerungsdienste, Big Data genannt.

Eine neue Realität schleicht sich an

Dessen nicht genug werden uns tagtäglich neue „alles umwälzende Revolutionen“ in Aussicht gestellt. Vorwärts zur „Industrie 4.0“, zur Vernetzung und Roboterisierung sämtlicher automatisierbarer Tätigkeiten und Berufe. Vorwärts zur umfassenden algorithmischen Steuerung unseres Lebens, Arbeitens, Wohnens, Denkens, Fühlens. Vorwärts zur „künstlichen Intelligenz“, die fast alles viel besser machen wird als der weitgehend überflüssig gemachte Mensch. Vorwärts zur letztendlichen „Verschmelzung von Mensch und Maschine“, mit der wir uns die Technik und das Internet in den eigenen Körper holen. Hin zum Cyborg, zur Herstellung des Hybridmenschen. Denn um wiederum all das zu bewältigen, brauchen wir die Perfektionierung und Selbstoptimierung des Menschen, die Herstellung eines fehlerfreien und sehr viel leistungsfähigeren künstlichen Androiden oder (wenigstens) die Tilgung aller Schwächen, Unvollkommenheiten und Krankheiten des Menschen, letztlich die Herbeiführung seiner Unsterblichkeit, an der ebenfalls längst ernsthaft gearbeitet wird.
Vieles, was der Beitrag von 2000 angekündigt hat und damals etliche Freunde oder Leser für utopisch oder übertrieben hielten, ist inzwischen Realität geworden. Eine Realität, an die wir uns bereits gewöhnt haben. Sie schleicht sich einfach ein. Keine und keiner von uns wurde je gefragt, ob wir all das überhaupt wollen – während es unser Leben dramatisch verändert. Wer hat inzwischen kein Laptop, kein Tablett, kein Smartphone? Warum machen wir fast alle diese Entwicklung fast widerstandslos, ja vielfach begeistert und auf das immer Neueste und Aktuellste begierig mit? Wo doch keiner weiß, wohin sie uns führt. Was treibt uns dazu an, wie Schafe Leithammeln aus dem Silicon Valley, die wir nicht kennen und von deren Absichten und Zielen wir nichts wissen, hinterherzulaufen?

Vom Geiste gehen die Dinge aus

Die Lehre und Praxis des Buddha hat uns vor 2500 Jahren aufgezeigt, dass all unser menschliches Leid und Elend seine Wurzel in unserer Verblendung, unserem „Nichtwissen“ (avijja), ja, Nicht-wissen-Wollen hat. Dass auf dieser Grundlage unser Unglücklichsein – das sich häufig als großes Glück tarnt – durch uns selbst herbeigeführt ist, da wir von ichverhafteter Begierde oder Abneigung getrieben sind. In der Lehre vom zwölfgliedrigen Kreislauf des samsara-cakka (Leidensrad) oder paticcasamuppada (wechselseitig bedingtes Entstehen) hat der Buddha äußerst präzise und tiefgründig jenen geistig-psychisch-körperlichen Grundprozess aufgezeigt, der uns auf zahllose Irrwege des Menschseins führt, solange wir nicht das praktizieren, was er als befreienden Aus- und Heilsweg gelehrt hat: Achtsamkeit, Bewusstheit, Weisheit.

Im Dhammapada, einer frühbuddhistischen Lehrdichtung aus dem Pali-Kanon, heißt es im Eingangsvers: „Vom Geiste gehen die Dinge aus, vom Geist gelenkt, im Geist gemacht.“ Wenn dem so ist, muss dann nicht angenommen werden, dass es bestimmte geistige Inhalte, Impulse, Mächte gibt, die uns in diese Entwicklung führen, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind? Ist es möglich, dass wir schon lange und heute verstärkt Antrieben folgen, die wir mit wacher Absicht gar nicht wirklich wollen, ja wollen können, die uns aber übermächtig beherrschen und immer schneller und unausweichlicher in diesen „Fortschritt“ treiben? Ein Fortschritt, der letztlich die Selbstauslöschung des Menschen bedeuten kann.

Drei Wissensmächte

Diese geistigen Mächte zu finden ist zunächst nicht besonders schwierig, es ist der moderne, nun weltweit herrschende Komplex dreier in Europa entstandener Wissensmächte: 1. Wissenschaft, 2. Technik, 3. Ökonomie. Jedes Land, jede Gesellschaft und fast jeder Mensch folgt heute diesen Mächten, ist von ihnen erfasst und in sie involviert, ob er es sieht oder nicht, ob er es will oder nicht. Dies nicht zu erkennen ist ein zentraler Faktor des erwähnten Nichtwissens. Zu Buddhas Zeiten, ja bis vor circa 300 Jahren gab es diese Wissensmächte noch nicht. Darum kommen sie beim Buddha auch nicht vor. Sie treten erstmals vor 500 Jahren in Europa in Erscheinung. Mit Beginn dessen, was nicht zufällig „Neuzeit“ genannt wird, eine der radikalsten Umwälzungen der Menschheitsgeschichte. In eben dieser Zeit beginnt der furiose Aufstieg der empirisch-rationalen Wissenschaft, der maschinell-industriellen Technik, der privat-kapitalistischen Ökonomie. Wissenschaft (Gelehrsamkeit), Technik (Handwerk), Ökonomie (Handel) finden wir durchaus schon lange vorher, bereits im Mittelalter, bereits in der Antike, und nicht nur in Europa, sondern in allen alten Kulturen. Doch nirgendwo in diesem abendländisch-neuzeitlichen Sinne.

Was ist das neue und Einzigartige an ihnen? Das wird mit aller Deutlichkeit von einem der Protagonisten und Propagandisten dieses neuartigen Geistes ausgesprochen, von Francis Bacon, und lautet „Wissen ist Macht“ („scientia potestas est“). Der Philosoph Friedrich Nietzsche erkennt darin 300 Jahre später den totalitären „Willen zur Macht“ über die Wirklichkeit und nennt ihn Nihilismus. Der englische Adlige, Staatsmann und Philosoph Bacon lebte von 1561 bis 1626 und wird neben seinen Werken, die die neue Wissenschaft begründen (Novum organon scientiarum) vor allem durch seine Utopie The New Atlantis berühmt und einflussreich. In ihr beschreibt er erstmals das, was wir heute „Wissensgesellschaft“ oder „technologische Zivilisation“ nennen. Es ist erstaunlich, wie viele moderne Errungenschaften, die für uns heute alltäglich sind, er hier voraussieht.

Das Ich erkennt mit Gewissheit?

Vor Bacon ist es der Mathematiker Kopernikus, der erstmals das bis dahin gültige metaphysische Weltbild „vom Kopf auf die Füße“ stellt. Zu Bacon gesellen sich noch Galileo Galilei, Johannes Kepler, Thomas Hobbes und René Descartes. Sie formen in kürzester Zeit eine völlig neue Weltsicht. Die beruht nicht mehr auf den Grundlagen der christlichen Theologie und der biblischen Offenbarung, sondern auf einer Wissensform und Wissensquelle, die als „verlässlich“, „gewiss“, „exakt“ und „vernünftig“ gilt, und das ist die nun einsetzende (vom Sternenhimmel auf die Erde heruntergeholte) empirische Vermessung (und kolonialistische Eroberung) der Welt in Verbindung mit der Anwendung der Gesetze der Mathematik.

Der französische Philosoph Descartes formuliert die dafür entscheidenden Prämissen. Nicht mehr die Bezüge von Gott und Mensch, Himmel und Erde, Geist und Materie, ewigem Sein und unbeständigem Schein bestimmen die menschlichen Verhältnisse, sondern die Beziehungen zwischen Ich und Welt, Subjekt und Objekt, res cogitans (denkende Sache, Intellekt) und res extensa (ausgedehnte Sache, Raum und Zeit). Das Ich, das Subjekt, erkennt etwas mit Gewissheit, wenn es sich an die Regeln der Vernunft und Logik hält. Die Welt, das Objekt, wird vom Subjekt, mit Gewissheit erkannt, wenn es sie mit den Mitteln der Messung untersucht (der Beitrag Galileis) und sie nach den „Gesetzen“ der Mathematik beschreibt. Darauf beruht die moderne Wissenschaft, Technik und Ökonomie bis heute.

Fußnote

  1. Cyborg (sprich „saiborg“) ist ein in den USA in den 1960er-Jahren aufgekommenes Kunstwort für cybernetic organism (kybernetischer Organismus) und bezeichnet ein Mischwesen aus lebendem Organismus und Maschine.

ENDE DER LESEPROBE

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Franz-Johannes Litsch

Franz-Johannes Litsch ist Architekt und war viele Jahre Mitarbeiter des Umweltbundesamts. Seit über 50 Jahren ist er auf dem Weg des Buddha. Seit 20 Jahren studiert und praktiziert er im Theravada, zuvor im Zen und im tibetischen Buddhismus. Er ist Autor und Dozent für buddhistische und westliche Philosophie, Vipassana-Lehrer sowie Mitarbeiter am Institut für interreligiöse Studien in Freiburg.

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