Buddhistische Handschriften: Sensation auf Birkenrinde

Ein Beitrag von Prof. Dr. Jens-Uwe Hartmann veröffentlicht in der Ausgabe 2021/1 Gemeinwohl unter der Rubrik Wissenschaft.

Bis vor zwanzig Jahren klafften für die Buddhismusforschung 600 Jahre zwischen den frühesten sicheren Spuren des Buddha und den ersten Schriftzeugnissen. Dann fand man in den 1990er-Jahren in Pakistan und Afghanistan sensationelle alte Handschriften. Der Indologe Professor Jens-Uwe Hartmann, der diese Texte erforscht, unterstreicht in seinem Beitrag: „Noch näher wird man dem Buddha und seiner ursprünglichen Lehre wissenschaftshistorisch nicht kommen können.“

Aus religionshistorischer Perspektive beruht unsere Kenntnis des Buddhismus in erster Linie auf Reden, in denen der Buddha seine Lehre darlegt. Diese Reden sind in großen Sammlungen überliefert, und sie erheben durchaus den Anspruch, vom Buddha selbst zu stammen, fast als wären sie Mitschnitte seiner Gespräche. Ist das denkbar und wahrscheinlich? Diese Frage ist leicht zu beantworten, und zwar mit einem ganz klaren Nein. Dazu muss man einen Blick auf die Überlieferungssituation werfen. Egal, ob wir zu einem Sutta aus dem Palikanon greifen oder ein Sutra des Mahayana-Buddhismus lesen ‒ keine dieser Lehrreden lässt sich auch nur bis zur Zeitenwende lückenlos zurückverfolgen. Das liegt in erster Linie am indischen Klima. Die gesamte buddhistische Literatur ist handschriftlich überliefert worden. In Indien hat man auf Palmblatt geschrieben; Hitze und Feuchtigkeit führen aber dazu, dass solchen Palmblättern kein allzu langes Leben beschieden ist. Manuskripte müssen immer wieder abgeschrieben werden. Die ersten fragmentarisch erhaltenen Reste buddhistischer Sanskrit-Handschriften stammen zwar bereits aus dem 3. Jahrhundert, aber vollständige Handschriften sind erst aus dem 11. und 12. Jahrhundert erhalten; die ältesten Handschriften des Palikanons sind nochmals um einige Jahrhunderte jünger.

Lange Redaktionsgeschichte

Daher klaffte zwischen den Lehren des Buddha und den ältesten für uns erreichbaren Fassungen seiner Worte bisher eine Lücke von knapp 600 Jahren. Natürlich kann man weiterfragen, ob es einen guten Grund für die Annahme gibt, dass die uns heute vorliegenden Fassungen ganz oder wenigstens zu großen Teilen identisch sind mit dem, was der Buddha einst gesagt hat. Aber auch hier lautet die Antwort nein, ganz im Gegenteil. Wenn man die Handschriften vergleichend studiert, sieht man sehr schnell, dass sie das Ergebnis einer langen Redaktionsgeschichte darstellen. Die Reden des Buddha sind im Laufe der Verbreitung in Indien ständig in die Lokalsprachen und später dann auch ins Sanskrit, die Gelehrtensprache des alten Indiens, übertragen worden. Die Erlaubnis dazu soll der Buddha selbst erteilt haben. Damit war aber von Anfang an die Festlegung auf eine für alle Anhängerinnen und Anhänger verbindliche Fassung verhindert. Gleichzeitig haben gelehrte Mönche die Texte ständig überarbeitet und an die Bedürfnisse der jeweiligen Zeit angepasst. Und schließlich führt der Vorgang des regelmäßigen Abschreibens unausweichlich zu Fehlern, die nicht immer gleich entdeckt und korrigiert werden. All dies zusammen hat zur Folge, dass wir doch sehr weit entfernt sind von dem, was der Buddha einst gesagt und gelehrt haben könnte.

Während wir die Existenz des Buddhismus schon sehr früh, nämlich im 3. Jahrhundert v. u. Z. nachweisen können, sieht es bei der Literatur sehr viel schlechter aus. Die Inhalte der Lehre werden erst später fassbar; hier klaffte bis vor Kurzem eine anscheinend unüberbrückbare Lücke. Dieser Abstand hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten aber geradezu dramatisch verringert. Sensationelle Handschriftenfunde aus Pakistan und Afghanistan bringen uns jetzt bis an die Zeitenwende zurück; sie sind also rund tausend Jahre älter als die frühesten bisher aus Indien bekannten Manuskripte. 

Bei den gefundenen Handschriften handelt es sich um Schriftrollen. Für die ersten Exemplare, die Ende der 1990er-Jahre ins Britische Museum in London gelangten, wurde in den englischsprachigen Medien umgehend der Name „Dead Sea Scrolls of Buddhism“ geprägt. Der Vergleich ist gar nicht schlecht, denn er trifft nicht nur auf die äußeren Ähnlichkeiten mit den frühchristlichen Rollen zu, die man in Qumram am Toten Meer gefunden hat. Er gilt ebenso für die herausragende Bedeutung der neuen Handschriften im Rahmen der buddhistischen Überlieferung. Auch wenn immer noch mehrere Jahrhunderte zwischen dem Buddha und den neuen Funden liegen, kann man doch aus historischer Perspektive mit vollem Recht sagen: So nah waren wir den ursprünglichen Lehren des Buddha noch nie!

Noch zusammengerollte Handschrift, British Library

Schrift auf Birkenrinde

Wie beim Fund der Schriftrollen vom Toten Meer hat auch in Pakistan und Afghanistan das trockene Klima wesentlich zur Erhaltung der Rollen beigetragen. Die Fundumstände sind in den meisten Fällen nicht genauer bekannt. Häufig dürften es einheimische Schatzsucher sein, die etwa in Stupas nach den wertvollen Reliquienbehältern suchen und dabei zufällig auf die Schriftrollen stoßen. Wir wissen lediglich, dass die Rollen bisweilen in Tontöpfen aufbewahrt waren, und in einem Fall sind sie offenbar in den Ruinen eines buddhistischen Klosters gefunden worden. Hier muss man sich erinnern, dass die beiden Länder vor ihrer Islamisierung rund tausend Jahre lang zur buddhistischen Welt gehört haben. Ihre Kernregion, bekannt unter dem alten Namen Gandhara, war nicht nur ein Zentrum des indischen Buddhismus, sondern diente auch als Ausgangspunkt für seine Verbreitung entlang der Seidenstraße nach Zentral- und Ostasien. Die einstige Bedeutung der Region zeigt sich sehr schön an den beiden gewaltigen Buddhastatuen im Tal von Bamiyan, die im Jahr 2001 von den Taliban gesprengt und völlig zerstört wurden.

Die ersten Schriftrollen wurden von einem anonymen Sammler angekauft und dem Britischen Museum übergeben. Dort sah sie ein US-amerikanischer Wissenschaftler, der glücklicherweise mit der sehr speziellen Schrift vertraut war. Er machte sich an die Entzifferung, und als er erkannte, dass es sich um buddhistische Schriften handelte, wusste er, dass eine wissenschaftliche Sensation vor ihm lag. 

Die Manuskripte sind auf Birkenrinde geschrieben. Dieses Material wird in der Region selbst gewonnen. Anders als das in Indien gängige Palmblatt erlaubt die Birkenrinde unterschiedliche Formate. Einzelne Stücke lassen sich verkleben oder zusammennähen, so dass man Rollen von unterschiedlicher Länge herstellen kann; einige davon sind mehrere Meter lang. Seit dem ersten Fund in den 1990er-Jahren sind immer wieder neue auf den internationalen Kunstmarkt gelangt. Inzwischen kennen wir bereits über hundert (!) Schriftrollen. Leider sind sie in den meisten Fällen stark beschädigt. Das liegt vor allem daran, dass die Birkenrinde im Laufe der Zeit austrocknet und dann extrem brüchig wird. Schon bei der Berührung kann sie in kleine Bruchstücke zerfallen. Leider sind die Funde so gut wie nie unter archäologisch gesicherten Umständen erfolgt und daher auch nicht dokumentiert. Es lässt sich also auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um alte Beschädigungen handelt oder um solche, die erst durch unsachgemäße Bergung erfolgt sind.

Besuch von Chetsang Rinpoche in der Staatsbibliothek, Jens-Uwe Hartmann und der Münchner Tibetologe Prof. Dr. Franz-Karl Ehrhard

Restauration mit modernsten Methoden

Idealerweise werden solche Rollen zunächst von Restauratoren behandelt, die durch kontrollierte Zugabe von Feuchtigkeit dafür sorgen, dass die Birkenrinde ihre Sprödigkeit verliert und wieder biegsam wird. Erst dann kann man sie völlig entrollen und hochauflösende Fotos und Scans anfertigen, die den Fachwissenschaftlern als Bearbeitungsgrundlage für die Entzifferung dienen. Erschwert wird diese Entzifferung nicht nur durch den oft extrem fragmentarischen Zustand, sondern auch durch die Schrift und die Sprache. Beide sind noch unzulänglich erforscht und zeichnen sich durch zahlreiche Doppeldeutigkeiten aus. Dadurch stellen sie jeden Bearbeiter vor größte Herausforderungen. Wenn eine Rolle in viele Teile zerfallen ist, beginnt man damit, die einzelnen Fragmente zu lesen, und versucht zu verstehen, um welche Art von Text es sich handeln könnte. Sobald das deutlicher wird, sucht man nach parallelen Fassungen in der buddhistischen Literatur. Verwandte Fassungen in Pali oder Sanskrit bieten eine unschätzbare Hilfe beim Verständnis der Fragmente und bei dem Versuch, die Bruchstücke sinnvoll zusammenzusetzen und eine Rekonstruktion des ursprünglichen Textes zu versuchen.

Weltweit bieten nur ganz wenige Universitäten das notwendige wissenschaftliche Umfeld. Eines der größten Forschungsprojekte ist erfreulicherweise an der Universität in München angesiedelt; seit 2012 wird dort im Lauf von insgesamt 21 Jahren eine ganze Reihe von Texten bearbeitet („Buddhistische Handschriften aus Gandhara“, www.gandhara.indologie.uni-muenchen.de/index.html). Mehrere junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten hier im Rahmen eines internationalen Verbundes, zu dem Projekte an den Universitäten in Lausanne, Seattle und Sidney gehören. Voraussetzung sind eine exzellente Vertrautheit mit den einschlägigen Sprachen und eine gute Kenntnis der buddhistischen Literatur, wobei heutzutage digitale Hilfsmittel etwa bei der Suche nach Paralleltexten unschätzbare Dienste leisten. Gefördert wird das Münchener Projekt von der Union der deutschen Wissenschaftsakademien. Die ungewöhnliche Dauer erklärt sich aus dem Schwierigkeitsgrad der Bearbeitung: Für jeden einzelnen Text sind mehrere Jahre veranschlagt.

Hochentwickelte Scholastik

Welche Texte sind dabei zum Vorschein gekommen und wie verändern sie das bisherige Bild von der Entwicklung der buddhistischen Literatur? Im Wesentlichen handelt es sich um die folgenden Genres: Erstens enthalten die Rollen Varianten von Lehrreden (Sutta/Sutra) des frühen Buddhismus, wie wir sie aus dem Palikanon kennen. Verfasst sind sie in einem Dialekt, den man nach der Region als Gandhari bezeichnet. Sie sind nie deckungsgleich mit den Pali-Fassungen, aber meistens ähnlich genug, um die Verwandtschaft erkennbar werden zu lassen. Dazu gehören beispielsweise auch mehrere eigenständige Fassungen des Dhammapada, bis heute eines der populärsten Werke des Buddhismus. Sie enthalten ferner Erzählungen, die dem Genre der Vorgeburtsgeschichten (jataka) des Buddha und seiner Schülerinnen und Schüler entstammen. Einige Fragmente gehören dem Bereich des Ordensrechts (vinaya) an, wobei auch hier keine Deckungsgleichheit mit den bisher bekannten Fassungen des Vinaya besteht.

Auf besonderes Interesse sind Werke aus dem Bereich der Kommentarliteratur gestoßen. Sie zeigen, dass es in Gandhara bereits eine hochentwickelte Scholastik gegeben hat. Gelehrte Mönche trugen nicht nur ihre eigene Auslegung der Lehren des Buddha vor, sondern zitierten gleichzeitig abweichende Lehrmeinungen anderer Gelehrter, mit denen sie sich auseinandersetzten. Aus diesen Schriften tritt uns das Bild einer lebendigen Gelehrtengemeinschaft entgegen, das nicht von ungefähr an die Situation in den großen Klöstern Tibets erinnert. Zugleich sehen wir eine erstaunliche Vielfalt bereits zu diesem relativ frühen Zeitpunkt. Plötzlich ist die Pali-Tradition nicht mehr der einzige Repräsentant des frühen Buddhismus, sondern nur noch einer unter vielen anderen, von denen aber fast alle untergegangen sind. Mit den Gandhari-Texten wird jetzt erstmals eine weitere Tradition greifbar, deren schriftliche Zeugnisse zudem weit über tausend Jahre älter sind als die des Pali-Buddhismus.

Die Region Gandhara hatte lange Zeit als ein Randgebiet der indisch-buddhistischen Welt gegolten. Jetzt sehen wir, dass sie in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende ein äußerst lebendiges Zentrum gewesen sein muss, wo verschiedene Richtungen des Buddhismus praktiziert und weiterentwickelt wurden. Der intensive Fernhandel auf der Seidenstraße lieferte offenbar die ökonomische Grundlage für diese Blütezeit, und gleichzeitig diente die Seidenstraße als Verbreitungsweg nach Zentral- und Ostasien.

Besuch der Königlichen Hoheit Maha Chakri Sirindhorn aus Thailand (Mitte); links Dr. Klaus Ceynova, jetziger Generaldirektor der Bibliothek, rechts Jens-Uwe Hartmann

Überraschung: Mahayana-Sutras

Die größte Überraschung für Buddhismus-Forscher in aller Welt kam mit der Entdeckung, dass einige Gandhari-Rollen Sutras des Mahayana enthalten. Inzwischen sind bereits Fragmente aus mehr als zehn Werken bekannt geworden. Die meisten davon kennen wir aus jüngeren Sanskrit-Fassungen oder aus frühen Übersetzungen ins Chinesische und Tibetische, aber es gibt auch bisher völlig unbekannte Sutras, die offenbar verloren gegangen waren. Das ist sensationell und die Geschichte des Mahayana-Buddhismus muss neu geschrieben werden. Man hatte schon früher angenommen, dass die ältesten Lehrreden des Mahayana bereits im letzten Jahrhundert v. u. Z. entstanden sein müssten. Beweise dafür gab es nicht, und Gandhara hatte dabei keine Rolle gespielt. Jetzt haben wir erstmals konkrete Anhaltspunkte, denn mittlerweile liegen C14-Untersuchungen zur präzisen Altersbestimmung einiger Gandhari-Handschriften vor. Die Ergebnisse decken einen Zeitraum vom 1. vorchristlichen Jahrhundert bis zum 3. Jahrhundert u. Z. ab. Für die Überlieferungssituation im alten Indien ist das unglaublich früh; damit rückt man ganz nah an den vermutlichen Beginn schriftlicher Aufzeichnungen heran. Noch näher wird man dem Buddha und seiner ursprünglichen Lehre – zumindest aus unserer heutigen Sicht – wissenschaftshistorisch nicht kommen können.

Prof. Dr. Jens-Uwe Hartmann

ist Indologe. Er war Professor für Tibetologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (1995–1999) und Professor für Indologie und Iranistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München (1999–2018). Seine Schwerpunkte sind unter anderem buddhistische Sanskrit-Handschriften aus Zentralasien und Afghanistan, die kanonische Literatur des Buddhismus und gegenwärtige Entwicklungen des Buddhismus.

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