Achtsamkeit, die in den Körper eintaucht

Ein Beitrag von Peter Doobinin übersetzt von Petra Geist, Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2020/1 Frauen unter der Rubrik Buddhismus Heute. (Leseprobe)

Wer die Meditation des Buddha praktiziert, wird ein „verkörpertes Bewusstsein“ entwickeln – ein Bewusstsein für den ganzen Körper. Das erläutert der Theravada-Lehrer Peter Doobinin, der in der thailändischen Waldklostertradition ausgebildet wurde. Die klassische buddhistische Achtsamkeitspraxis ist der Weg, um sich der inneren Landschaft des Körpers bewusst zu werden, einschließlich der mentalen Erfahrungen, die sich in körperlicher Form zeigen. Auf diese Weise lässt sich Leiden annehmen und schließlich auflösen.

„Wenn eine Sache geübt und verfolgt wird, wird Unwissenheit aufgegeben, klares Wissen entsteht, die Einbildung „Ich bin“ wird aufgegeben, die darunterliegenden Tendenzen werden entwurzelt, Fesseln werden aufgegeben. Welche eine Sache? Achtsamkeit, die in den Körper eintaucht.“

(Anguttara Nikaya I.36)

 „Wer Achtsamkeit, die in den Körper eintaucht, nicht entwickelt, nicht verfolgt hat, in den tritt Mara ein, dort fasst Mara Fuß. Angenommen, ein Mann würde eine schwere Steinkugel in einen Haufen feuchten Lehm werfen. Was denkt ihr, Mönche? Würde die schwere Steinkugel in den Haufen aus feuchtem Lehm eindringen?“

„Ja, ehrwürdiger Herr.“

„Auf die gleiche Weise hält Mara Einzug in denjenigen, in dem Achtsamkeit, die in den Körper eintaucht, nicht entwickelt ist, der sie nicht verfolgt hat. Dort wird Mara Fuß fassen.“

(Majjhima Nikaya 119)1

Wie mentale Erfahrungen als Empfindungen im Körper Gestalt annehmen, ist eine der großen Fragen der heutigen Neurowissenschaft. Einige der effektivsten Therapieformen der Psychologie stützen sich mittlerweile auf körperorientierte Modelle. Beim Somatic Experiencing (körperorientierter Ansatz zur Lösung von traumatischem Stress) werden Patientinnen und Patienten dazu angeleitet, die innere Landschaft ihres Körpers zu erforschen, um ihre mentalen und emotionalen Erfahrungen zu verstehen. So hat Eugene Gendlin die Methode des „Fokussierens“ entwickelt, um das Bewusstsein dafür zu sensibilisieren, wie sich mentale Phänomene als körperliche Empfindung ausdrücken. Beim Fokussieren bringen Praktizierende das Bewusstsein in den Körper, in die gefühlte Erfahrung von Leiden, emotionalem Schmerz und psychischem Unwohlsein. Sie sind sich bewusst, dass die Emotion eine körperliche Form annimmt. Sie beobachten ihre körperliche Verfassung, betrachten Form, Farbe, Struktur ihrer Gefühle und wählen passende Beschreibungen wie „Angst“, „Wut“, „Enttäuschung“ oder „Unzufriedenheit“.

Ein Großteil solcher neuen Therapiemodelle stammt aus der Traumaforschung. Noch Jahre nach einem Verkehrsunfall kann das Unfallopfer von Angst überfallen werden, wenn es an einer Straße entlanggeht. Möglicherweise ist nicht einmal ein Fahrzeug in Sicht, und doch hat die Person Angst, weil sie die Angst im Körper festhält. Viele von uns haben in der Kindheit schmerzhafte Gefühle erfahren und fühlen diese Gefühle unter bestimmten Umständen noch immer. Als kleiner Junge wurde ich oft von meinem Vater kritisiert, und wenn mich später in meinem Leben jemand kritisierte, fühlte ich erneut die Angst und Wut meiner Kindheit. Solche Gefühle sind jedoch keine einfachen Reproduktionen, sondern setzen sich aus vielen Schichten zusammen: Wir haben die schmerzhaften Gefühle erst gefühlt und dann über Jahre hinweg unzählige Male an ihnen festgehalten.

Wie die Zitate eingangs zeigen, erkannte der Buddha vor 2.600 Jahren, dass der Weg aus dem Leiden darin besteht, dem Körper – seinen physischen und mentalen Ereignissen, der Art und Weise, wie es sich anfühlt – größte Aufmerksamkeit zu schenken und sich der körperlichen Erfahrungen bewusst zu werden. In der Dharmapraxis lernen wir beispielsweise, Ängste wahrzunehmen, wie sie als Form, als Empfindung im Körper erscheinen. Wir beobachten die körperlichen Empfindungen und lernen, unsere Beziehung dazu zu verstehen. Wir lernen zu beobachten, wie wir daran festhalten und wie dieses Festhalten Leiden hervorruft. Wir lernen, die unbeständige, bedingte Natur dieser Empfindungen zu erkennen und zu verstehen, dass wir nicht leiden, wenn wir all dies zulassen. Zu diesen Einsichten gelangt man, indem man die Empfindung betrachtet, wie sie in Echtzeit im Körper entsteht. Ohne solch ein „verkörpertes Bewusstsein“ ist es nicht möglich, Einsicht – befreiende Einsicht – zu entwickeln.

Auf dem Weg zum Körper

Der Buddha beschreibt definierte Schritte, um die Reise zum Körper zu unternehmen. Sie umfassen die detailliertesten Anweisungen, die er gegeben hat. Es sind die Schritte, denen er selbst folgte und die alle Dharmapraktizierenden lernen können. Man kann sie im Alltag praktizieren, trotz der täglichen Verantwortung für Arbeit, Beziehung und so weiter. Ich habe diese Fähigkeiten viele Jahre lang unterrichtet und es ist keine Frage, dass sie sich üben lassen. Man muss dazu nicht in einem Kloster leben oder unzählige Retreats besuchen. Wenn man entschlossen und von ganzem Herzen übt, kann man sich auf den Weg zum Körper machen.

Zuerst verwurzeln wir uns fest im Körper, indem wir den Geist auf den Atem lenken. Die Achtsamkeit des Buddha bedeutet, sich auf etwas zu fokussieren – und zwar zunächst auf den Atem. Als Dharmaübende lernen wir, den Geist aktiv beim Atem zu halten. Wir richten den Geist auf den Atem und verwenden das, was der Buddha „gerichtetes Denken“ nannte. Im Wesentlichen sagen wir uns, dass wir uns auf den Atem konzentrieren.

Aber diese Anstrengung, den Geist zum Atem zu bringen, wird uns nur ein gewisses Stück weit führen. Denn indem wir den Geist zum Atem bringen, „zwingen“ wir unsere Aufmerksamkeit, beim Atem zu sein. Darauf beruhen die meisten Meditationstechniken – die Aufmerksamkeit dazu zu zwingen, beim Objekt zu bleiben. Der Buddha erkannte, dass dieser Ansatz nur eingeschränkt wirksam ist. Um den Geist beim Atem zu halten, sollten wir die Form des Atmens gestalten. Das heißt, wir sollten einen leichten, angenehmen Atemzug pflegen, um im Körper einen Ort zu schaffen, an dem der Geist gerne bleiben möchte.

Einen angenehmen Ort im Innern schaffen

Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Konzentration des Buddha ein vollständiges Körperbewusstsein beinhaltet. Das können wir aufrechterhalten, wenn wir lernen, ein angenehmes Inneres zu kultivieren. Was heißt das? Wir werden bei diesen Übungen zunächst erkennen: Der Geist will nicht im Körper bleiben. Er leistet beständig Widerstand gegen die Aussicht, im Körper zu bleiben zu müssen. Warum? Weil er den Körper als schmerzvolles Territorium wahrnimmt. Und das stimmt. Der Körper ist ein Gefäß vieler Schmerzen: körperlicher, mentaler und emotionaler Schmerzen. Der Geist betrachtet den Körper als ungastliches Terrain. Als der Buddha nach dem Erwachen suchte, erkannte er dies als grundlegende Wahrheit: Wenn der Geist im Körper verweilen soll, muss die Wahrnehmung des Körpers angenehm sein.

Um also den Geist auf Dauer im Körper zu halten, ist es wichtig, dass wir einen Ort haben, an dem er bleiben möchte. Die fortgeschrittenen buddhistischen Mönche der thailändisch-buddhistischen Waldtradition (Ajahns) nennen das „ein gutes Zuhause für den Geist“. Das ist die Aufgabe, die der Buddha in der nächsten Anweisung für die Atemmeditationspraxis darlegt: Nachdem wir einen leichten und angenehmen Atem entwickelt haben, erlauben wir unserem Bewusstsein, sich zu erweitern, damit es den ganzen Körper füllt. Wir verbreiten die leichte Atemenergie – bekannt als „Piti“ oder „Verzückung“ – im ganzen Körper, so dass der Körper mit leichter, angenehmer Energie gefüllt ist. Wenn wir diese Art von angenehmem Verweilen geschaffen haben, ist der Geist damit zufrieden, genau dort zu bleiben, wo er ist – im Körper.

Es ist unmöglich, mit unserem Leiden zusammen zu sein, wenn wir nicht auf angenehme Weise in unserem Innern verweilen können. Denn wenn wir keinen Zugang haben zu innerer Leichtigkeit und Freude, versuchen wir verzweifelt, unsere Leiden loszuwerden. Mit unserem Schmerz konfrontiert, wollen wir ihm nur entkommen. Haben wir jedoch ein entspanntes, angenehmes Zuhause im Körper, versuchen wir nicht ganz so verzweifelt, unserem Schmerz zu entkommen. Wir können mit ihm sein. Es ist in Ordnung, dass er da ist. Das betonen auch körperorientierte Therapien wie Somatic Experiencing. Es ist wichtig, einen „sicheren Ort“ im Körper zu schaffen, einen Ort, an dem übende Menschen Zuflucht finden können, wenn sie ihre Schmerzen untersuchen.

Übersetzung aus dem Englischen: Petra Geist und Susanne Billig

Anmerkung

  1. Anmerkung der Redaktion: Wir haben die englische Pali-Übersetzung des Ehrwürdigen Thanissaro Bhikkhu, die Peter Doobinin verwendet, an dieser Stelle neu ins Deutsche übersetzt, weil bestehende deutsche Übersetzungen des Palikanons das Anliegen des Autors nicht ideal wiedergeben.

ENDE DER LESEPROBE

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Peter Doobinin

Peter Doobinin ist der Gründer und leitende Lehrer von Berlin Dharma. Bevor er nach Berlin kam, unterrichtete er mehr als 20 Jahre lang Theravada-Einsichtsmeditation in New York. Er ist Gründer der Downtown Meditation Community, Mitbegründer des New York Insight Meditation Center und Autor von „The Skill of Living“.

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