Wohin mit meiner Trauer?
Nach dem Tod ihrer Tochter Pauline sucht Isabel Schupp lange nach einem heilsamen Umgang mit ihrer Trauer. In einem Trauerseminar lernt sie, dass es nicht ums Loslassen geht, sondern darum, sowohl den geliebten Menschen als auch die Trauer in ihr Leben zu integrieren. Heute bietet sie selbst Trauerbegleitung an.
Als ich fünf Jahre alt war, starb mein Vater. Meine Mutter sah, dass ich weinte, nahm mich in den Arm und lächelte: „Schau“, sagte sie, „der Papa ist jetzt oben im Himmel und passt auf dich auf. Du musst nicht weinen.“ Da hörte ich auf zu weinen und lächelte. Als ich siebzehn war, starb mein Bruder. Meine Freundin sah, dass ich weinte, und sagte: „Schau, Gott holt besondere Menschen früher zu sich. Dein Bruder ist jetzt im Reich Gottes und es geht ihm gut. Du darfst dich freuen.“ Da hörte ich auf zu weinen und freute mich.
Als meine Tochter sechzehn war, starb sie an Krebs. Da begegnete ich einem Zen-Meister. Er sah, dass ich weinte, und sagte lächelnd: „Warum weinst du? Schau, Pauline ist überall – in ihrer Schwester, im Regen, im Weizenfeld, in den Sonnenstrahlen.“ Also betrachtete ich die Sonnenstrahlen und den Weizen und den Regen und …
Aber diesmal konnte ich nicht lächeln. Ich war fassungslos. Wie konnte der Tod meiner Tochter so spurlos an der Welt vorübergehen? Wie konnte sich die Welt so ungerührt weiterdrehen? Warum krümmt sie sich nicht vor Schmerz, warum geht die Sonne nicht unter vor Kummer, warum verlieren die Bäume nicht ihre Blätter vor Verzweiflung, warum erstarren die Gräser nicht vor Entsetzen? Wie ich? Ich werde gefragt, ob ich mich wieder gefangen habe. Habe ich mich gefangen? Ich weiß es nicht. Ich gehe zur Arbeit, ich lache, ich schlafe gut und esse gerne. Schließlich habe ich mich viel mit der Natur der Unbeständigkeit auseinandergesetzt, habe erkannt, dass niemand verloren geht und dass ich deshalb auch nicht mehr traurig sein muss. Und wenn ich schnell genug renne, um all die wichtigen Dinge in meinem Leben zu erledigen, dann spüre ich die Tränen nicht, die mir gegen die Schläfen drücken, dann duckt sich der Schrei, der mir in der Brust sitzt, nach unten in Richtung Magen.
Laut schreien, dass die Welt erzittert
Aber wenn ich innehalte, merke ich, dass ich mich nicht gefangen habe. Ich will es nicht hinnehmen, dass meine Tochter sterben musste, ich will nicht damit leben, es war nicht mein Plan. Das Schicksal hat mir eine tiefe Wunde zugefügt, die wehtut, und diesen Schmerz möchte ich beklagen.
ICH MÖCHTE AUF EINEN HOHEN BERG STEIGEN UND SO LAUT SCHREIEN, DASS DIE WELT ERZITTERT. Damit ich schreien kann und damit alle es hören. Aber ich schreie nicht. Es ist bei uns nicht üblich.
Also renne ich … wohin mit meinen Tränen …ich möchte auf einen hohen Berg steigen … Über das Internet erfahre ich von einem Trauerseminar in der Schweiz. Ich melde mich sofort an.
BEKANNTMACHUNG! HÖRT HER LEUTE, MEIN KIND PAULINE IST TOT. ICH VERMISSE SIE SO SEHR. ES FÜHLT SICH AN, ALS OB MIR JEMAND DIE EINGEWEIDE RAUSREISST. ICH HATTE DREI KINDER, AUF DIE ICH SO STOLZ WAR, UND ICH WOLLTE KEINS HERGEBEN. LEUTE, WEINT MIT MIR, DANN FÜHLE ICH MICH NICHT SO ALLEIN!!!
Ich stehe vor meinem großen Plakat, bemalt, beklebt, beschrieben, und lese mit lauter Stimme meine BEKANNTMACHUNG vor. Dabei heule ich Rotz und Wasser. Und alle hören mir zu. Zwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die einen geliebten Menschen verloren haben, durch Krankheit, Unfall, Suizid, vor einem halben Jahr, vor drei Jahren, vor dreißig Jahren. Zwanzig Menschen klagen an: das Schicksal, den Tod, sich selbst, Gott. Sie drücken ihren Schmerz, ihre Sehnsucht, ihre Wut und ihre Liebe aus. Ihren Protest und ihre Verzweifl ung. Aufrecht und mit lauter Stimme. Und neunzehn Menschen hören zu. Das ist das Wichtigste: Zuhören.
Ich bin auf einem Trauerseminar.
Auf einem Trauerseminar wird nicht gerannt. Es ist Zeit, um unseren abwesenden Lieben einen Platz in unserem geschäftigen Leben einzuräumen. Wir erzählen von den geliebten Verstorbenen, wie es war, als sie noch bei uns waren, wie es war, als wir sie hergeben mussten, und lassen die anderen daran teilhaben.
Immer wieder breche ich in Tränen aus. Aber ich spüre, wie der Druck in mir jeden Tag ein bisschen nachlässt. Mein Tränensee darf abfließen; ich erlebe, wie heilsam, wie erleichternd das Erzählen ist.
Paulines ersten Todestag verbringe ich mit meiner Familie im Kloster des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh in Plum Village. Dort erfahre ich, dass es durchaus Länder gibt, in denen sich Trauern und Erinnern nicht nur auf die Beerdigung beschränken. Länder, in denen jedes Jahr die Todestage von geliebten Menschen gefeiert werden, wie bei uns die Geburtstage. Man lädt Freunde und Verwandte ein, man kocht das Lieblingsessen der Verstorbenen, man singt, man weint, man tröstet sich gegenseitig und tauscht Erinnerungen aus.
ENDE DER LESEPROBE
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Isabel Schupp
Isabel Schupp ist Schauspielerin und Kommunikationstrainerin. Im Jahre 2000 erkrankte eines ihrer drei Kinder, die Tochter Pauline, an Leukämie und starb mit 16 Jahren im Dezember 2006. Durch die vielen unterschiedlichen Menschen, die in die Behandlung von Pauline involviert waren, erlebte sie, wie groß die Unterschiede in der Kommunikation waren. Bei manchen fühlte sie sich gut aufgehoben, bei anderen hingegen in ihrer Not allein gelassen. So hat sie aus der Kombination ihres beruflichen Know-hows und ihrer Lebenserfahrung ein Seminar-Konzept für Medizin und Hospizarbeit entwickelt, das sie Gruppen, Teams und Einzelpersonen anbietet. Außerdem ist sie ausgebildete Trauerbegleiterin und begleitet in München die offene Trauergruppe der Verwaisten Eltern.