VERANSTALTUNG & KOMMENTAR: Missbrauch – Missverständnisse

Ein Beitrag von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2018/2 Freiheit unter der Rubrik Debatte.

„Vajrayana-Buddhismus in der modernen Welt“ hieß ein Vortrag, den der buddhistische Lehrer, Autor und Filmregisseur Dzongsar Khyentse Rinpoche am 25. Februar 2018 im Berliner Zentrum der buddhistischen Gemeinschaft Rigpa hielt. Ein zusammenfassender Bericht und ein Kommentar von Susanne Billig, Online-Redakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

Dzongsar Khyentse Rinpoche | © Pedro Rocha

Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung waren die großzügigen und hellen Räume im Dharma Mati, Rigpas Stadtzentrum in Berlin-Charlottenburg, bis in die letzte Reihe gefüllt. Mit tiefen Verneigungen und in spürbar freudig-gespannter Erwartung begrüßten die Anwesenden, in der großen Mehrzahl Rigpa-Schülerinnen und -Schüler, aber auch Vertreterinnen und Vertreter anderer buddhistischer Traditionen, Dzongsar Khyentse Rinpoche.

Der Filmregisseur und Autor wurde 1961 in Bhutan als Khyentse Norbu geboren und unter dem Titel Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche als Hauptinkarnation von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö (1894-1959) in der tibetischen Khyentse-Stammlinie anerkannt. Nach einer Ausbildung in allen Hauptschulen des tibetischen Buddhismus studierte er in den USA Politik und Filmwissenschaften. Er war Berater des italienischen Regisseurs Bernardo Bertolucci, als dieser den Film Little Buddha drehte, debütierte 1999 als Regisseur mit dem Film „Spiel der Götter“, dem ersten Spielfilm Bhutans. 2003 kam sein zweiter Film, „Von Reisenden und Magiern“, in die Kinos. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt jedoch auf Projekten zum Erhalt der buddhistischen Lehren, indem er Zentren für Studium und Praxis gründet, Praktizierende fördert, Bücher publiziert und überall auf der Welt lehrt. Er steht traditionell dem Dzongsar Kloster und dessen Retreat-Zentren in Ost-Tibet vor sowie seinen neuen Universitäten in Indien und Bhutan. 

Hintergrund: sexuelle Übergriffe und körperliche Gewalt

Hintergrund der jetzigen Veranstaltung in Berlin waren die anhaltenden Debatten um Sogyal Rinpoche, dem Gründer von Rigpa, einer großen Gemeinschaft, die mittlerweile in zahlreichen Ländern weltweit vertreten ist und sich in vielen Projekten engagiert. In einem Brief vom 14. Juli 2017 warfen acht gegenwärtige und ehemalige Schülerinnen und Schüler – viele davon langjährig und in hohen Verantwortungspositionen bei Rigpa aktiv – ihrem buddhistischen Lama und Lehrer umfängliches missbräuchliches Verhalten vor, bis hin zu routinemäßigen sexuellen Übergriffen und massiver körperlicher Gewalt. Dzongsar Khyentse Rinpoche beteiligte sich an diesen Debatten mit einem langen Brief zum Guru-Schüler-Verhältnis im Vajrayana-Buddhismus ein, der – je nach Perspektive – unterschiedlich gelesen werden kann: als die differenzierte Auffächerung einer komplexen Beziehung; als Aufforderung an Vajrayana-Schülerinnen und -Schüler, ihr Verständnis dieses Weges zu vertiefen; als Rechtfertigung des Verhaltens von Sogyal Rinpoche und als Zurückweisung der Kritik an ihm (siehe weiterführende Links am Ende dieses Beitrags).

„Vajrayana-Buddhismus in der modernen Welt“ lautete der Titel seines Vortrags, in dem er laut Ankündigung auf mehrere zentrale Fragen eingehen wollte. Diese Fragen lauteten: 

Wie soll der Meister gesehen werden? | © Hartwig HKD

Weitere Fragen hatten die Besucherinnen und Besucher des Vormittags zuvor schriftlich einreichen können. Die Veranstalter wählten einige davon aus und stellten sie Dzongsar Khyentse Rinpoche im Anschluss an den eigentlichen Vortrag, darunter die erstaunlich unverblümten und direkten Fragen, wie er persönlich über Sogyal Rinpoche denke, was es damit auf sich habe, den Meister nach der Einweihung nicht mehr kritisieren zu dürfen, was es bedeute, mit dem Meister nötigenfalls gemeinsam in die Hölle zu gehen, ob ein Meister seine Schüler schlagen dürfe und ob Dzongsar Khyentse Rinpoche, wenn er Wurzelguru von Schülerinnen und Schüler wäre, diese sexuell, körperlich oder emotional missbrauchen würde.

Zu spontanen, mündlichen Fragen aus den Reihen des Publikums kam es nicht mehr, als die Veranstaltung nach drei Stunden – mit einer Stunde Überlänge – beendet wurde, obwohl dafür eigens Mikrofone im Raum aufgestellt worden waren. 

Klärung von Missverständnissen

Zu Beginn seines Vortrags betonte Dzongsar Khyentse Rinpoche, ganz den vorgegebenen Fragen zum Vortrag entsprechend, er wolle an diesem Vormittag eine Klärung herbeiführen in Bezug auf Missverständnisse und irreleitende Interpretationen des Vajrayana. Als Filmemacher wisse er um die Macht des Editierens und Schneidens, als Buddhist um die Macht der Projektionen. Nichts in der Welt sei davon frei. Zwar wolle er nicht leugnen, dass es ein Problem gebe, dennoch bleibe seine persönliche Hauptmotivation die Klärung von Missverständnissen. Auch er sei missverstanden worden mit seinem 19 Seiten langen Text, mit dem er sich in die Debatte um Sogyal Rinpoche eingeschaltet habe. So sei ihm beispielsweise vorgeworfen worden, dass ihn die Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen nicht kümmerten. Dies sei nicht wahr, er empfinde im Gegenteil tiefes Mitgefühl für den Samen ihrer Erleuchtung und ihren spirituellen Pfad. Die gegenwärtigen Debatten zeigten, so fuhr er fort, wie intensiv sich Menschen mit dem Vajrayana auseinandersetzten. Dies sei eine gute Gelegenheit, das Verständnis dieses Weges zu vertiefen und aus Fehlern zu lernen.

Was die Moderne angehe, gebe es wohl kaum ein spirituelles System, das besser in die heutige Zeit passe. In diesem Zusammenhang müsse man bedenken, dass im Buddhismus viele unterschiedliche, teils sogar widersprüchliche Lehren existierten. So gebe es „Cindarella teachings“, „Aschenputtel-Belehrungen“, die der Buddha Menschen erteilt habe, deren Verständnis noch nicht weit entwickelt war. Wie Babys seien sie voller Begehren gewesen und hätten Trost und Beruhigung in Form von Märchengeschichten gebraucht. Auf diese „Cindarella teachings“ kam Dzongsar Khyentse Rinpoche mehrfach im Laufe seines Vortrags zurück und spezifizierte sie als die ethischen Regeln und Aufforderungen zur konzentrierten Achtsamkeit in der Meditation und im Alltag, wie sie etwa im Theravada-Buddhismus gelehrt werden. Sie böten allen Menschen, die sich redlich um Disziplin, Ethik und Achtsamkeit bemühten, die tröstliche Aussicht auf spirituelle Entwicklung. Solche Lehren trennten säuberlich zwischen Problem und Lösung, während es im Vajrayana unendlich viele Lehrmethoden gebe, da, wenn die Motivation stimme, alles zu einer Lehrmethode werden könne. Viele Vajrayana-Lehrer seien sehr wild und unkonventionell gewesen, was zeige, wie undogmatisch diese buddhistische Schule sei.

Trau schau wie, was und wem | © Liam Welch

Die späteren Mahayana-Lehren des Buddha würden von den Anhängern der Aschenputtel-Lehren nicht anerkannt, ebenso wie Mahayana-Anhänger die Lehren des Vajrayana nicht anerkennen würden. Das Vajrayana trage darum allein die Last, alle Lehren des Buddhismus anzuerkennen, schätze es doch auch die frühen Belehrungen des Buddha als unverzichtbare Grundlage des Dharma. Im Gegensatz zu den Aschenputtel-Lehren habe der Buddha jedoch Non-Dualität, wie sie im Vajrayana gelehrt werde, wirklich gemeint, so Dzongsar Khyentse Rinpoche.

Vajrayana: modern, weil radikal undogmatisch

In die Moderne passe das Vajrayana, so der buddhistische Lehrer aus Bhutan  weiter, weil es das skeptisch-kritische Denken bejahe, Konventionen verwerfe und deshalb niemals dogmatisch werden könne. Außerdem sei es radikal gewaltfrei, weil es lehre, nicht mit den eigenen Emotionen zu kämpfen. Auch lehre es eine Zuversicht, wie sie in der heutigen Zeit gebraucht werde, indem es davon ausgehe, dass die wahre Natur jedes Menschen, ganz gleich wie unrein dieser aktuell erscheine, göttlich, unbefleckt und rein sei.

Das Problem bestehe nun darin, dass das Vajrayana zum einen von der tibetischen Kultur gekapert worden sei, in der Dharma und Politik sich auf ungute Weise vermischt hätten. So seien die vielen Rangordnungen und Heiligskeitstitel im tibetischen Buddhismus von außen an den Buddhismus herangetragen worden, im Zuge von Eroberungen des Landes durch fremde Kulturen. Dieses Durchtränktsein des Vajrayana-Buddhismus mit tibetischer Kultur hätten viele westliche Schülerinnen und Schüler zu wenig durchschaut. Tibetische Lamas hätten sich umgekehrt zu wenig darum bemüht, die Weltsicht ihrer westlichen Anhänger auch nur einigermaßen genau kennenzulernen. Zuzuhören und zu verstehen sei aber notwendig, wenn sie gute Ärzte für ihre Patienten sein wollten. 

Wurde das Vajrayana zu stark von der tibetischen Kultur gekapert? | © Wonderlane

Dzongsar Khyentse Rinpoche betonte, dass nach seiner Auffassung die Methoden der Guru-Verehrung niemals im Westen so öffentlich hätten verhandelt werden dürfen, wie dies geschehen sei. Eine Geheimhaltung in Bezug auf diese Lehren wäre ein Akt der Weisheit und des Mitgefühls gewesen. Weil aber der tibetische Buddhismus im Westen unbedacht so gelehrt worden sei wie in Tibet vor 200 Jahren, sei bei uninformierten und unvorbereiteten Westlerinnen und Westlern der falsche Eindruck entstanden, man könne als westlicher Suchender in ein buddhistisches Zentrum gehen und sich dort in kürzester Zeit für einen Vajrayana-Guru entscheiden. Die Vajrayana-Lehren seien jedoch keine „Cindarella teachings“, darum hätte mit ihnen viel vorsichtiger umgegangen werden müssen. Dies sei als historische Entwicklung nun nicht mehr ungeschehen zu machen, aber auf individueller Ebene gelte es nun je persönlich gegenzusteuern, was in erster Linie bedeute, die buddhistischen Lehren intensiv zu studieren, um das eigene Verständnis zu vertiefen. Denn, so betonte Dzongsar Khyentse Rinpoche mehrfach in seinem Vortrag, die Vajrayana-Lehren seien sehr radikal und herausfordernd und ließen sich mit den Mitteln normaler Logik nicht begreifen. Tatsächlich seien die schlimmsten Ketten der Unfreiheit sogar die der Logik und des Rationalismus.

Wer eignet sich zum Guru?

Die derzeitige Kritik an Missständen in Guru-Schüler-Beziehungen habe in vielem Recht, man dürfe aber nicht vergessen, dass diese Kritik für die überwiegende Mehrzahl der Meister nicht gelte. Allein zum jetzigen Zeitpunkt gebe es nicht weniger als 500 Nonnen und Mönche in lebenslangen Retreats, betonte Dzongsar Khyentse Rinpoche, um zu verdeutlichen, wie stark und gesund die Tradition sei. Die Beziehung zu einem tantrischen Guru sei etwas sehr Individuelles und Persönliches. Zum Guru eigne sich zudem nicht jeder, der in einer Institution oder Stiftung oder in einem Zentrum eine hohe Position einnehme. Einen tantrischen Guru für sich auswählen, das müsse mit großer Sorgfalt und nach gründlicher Analyse geschehen, denn es handele sich dabei um ein gefährliches Abenteuer. Wer einen gefährlichen Berg hinaufsteige, wolle auch sichergehen, dass er sich von einem dafür geeigneten Führer anleiten lasse. Habe man aber einen Guru ausgewählt, werde dieser zur wichtigsten Person im eigenen Leben. Ganz gleich, wie dieser Lehrer sei und wie er sich verhalte – nun sei man aufgefordert, alles dies als eigene Projektion zu begreifen.

Dies könne man mit dem Mitgefühl vergleichen, das im Zentrum des Mahayana stehe: Auch das Mitgefühl sei, habe man sich einmal dafür entschieden, nicht teilbar. Man könne es nicht dieser Person gewähren, einer anderen, weniger angenehmen aber nicht. Ebenso radikal verhalte es sich mit der Guru-Verehrung. Dies lasse sich auch nicht ändern, sonst mache man den Lehrer zum Anführer eines Kultes, der sich nicht mehr an den Texten orientiere, sondern die Lehren nach eigenem Gutdünken verändere. Wer authentischen Buddhismus praktizieren wolle, der müsse dies so akzeptieren. Man wähle einen tantrischen Lehrer nicht aus, weil er nett sei. Man müsse sich darauf einstellen, dass alles passieren könne, ohne Versicherung, und sich entsprechend vorbereiten. Wenn man immer beide Füße auf dem Boden der Sicherheit behalten wolle, werde der Buddhismus sterben. 

Die Verantwortung des Lehrers

Umgekehrt sei man selbst auch die wichtigste Person für den Lehrer, der eine enorme, auch karmische Verantwortung übernehme und dem es darum gehen müsse, den Samen der Erleuchtung und der reinen Wahrnehmung in seinen Schülerinnen und Schülern niemals zu verletzen oder auch nur im Geringsten anzutasten. Es gehe nun darum, nicht immer nur über die Guru-Verehrung zu sprechen, sondern auch über die Verantwortung des Lehrers für den Schüler. Der Guru sei – und wisse dies auch – wie ein Finger, der auf den Mond zeige, den eigentlichen, inneren Guru. Kein Diktator wolle, dass seine Anhänger ihn ein- oder überholten – ein tantrischer Guru ziele jedoch genau darauf ab. 

Der Guru ist wie ein Finger der auf den Mond zeigt – den eigentlichen, inneren Guru | © Andrea Reiman

Während das Theravada das Erkennen der Non-Dualität mit den Mitteln der Disziplin zu verwirklichen versuche, tue das Mahayana dies vorwiegend auf dem Wege des Mitgefühls, das Vajrayana auf vielen Wegen, vorwiegend jedoch mittels reiner Wahrnehmung, nicht nur in Bezug auf den Guru, sondern aller Phänomene. Die Verehrung des Gurus diene der eigenen Motivation, denn man übe nicht mit jemandem, den man nicht respektiere.

In Bezug auf Sogyal Rinpoche erklärte Dzongsar Khyentse Rinpoche, dass er ihn persönlich wenig kenne, auch niemals von ihm Belehrungen erhalten habe. Beeindruckt sei er von der Rigpa-Gemeinschaft und ihrer Entwicklung. Außerdem sei ihm positiv aufgefallen, dass Sogyal Rinpoche immer darauf bedacht gewesen sei, dass viele verschiedene Lehrer bei Rigpa Belehrungen hätten erteilen können; er habe diese Rolle nicht für sich allein beansprucht. Viele buddhistische Lehrer schmückten sich mit fremden Federn und gäben die Ideen anderer als ihre eigenen aus, das habe Sogyal nie getan. 

Mahasiddhas handeln aus Mitgefühl

Auf die Frage, ob er selbst als Wurzellehrer Schülerinnen und Schüler sexuell, körperlich oder emotional missbrauchen würde, antwortete Dzongsar Khyentse Rinpoche unmissverständlich: Ja – wenn er ein Mahasiddha wäre, ein tantrischer Lehrer mit den entsprechenden Fähigkeiten, und wenn dies seinen Schülerinnen und Schülern auf dem Weg zum Erwachen helfen würde, wäre dies ein Gebot des Mitgefühls. Mahasiddhas verhielten sich aus Mitgefühl so – Verrückte aus Verrücktheit. Er sei jedoch kein Mahasiddha und auch nicht erleuchtet, sondern ganz konventionell auf sein gutes Ansehen bei anderen Menschen bedacht, deshalb werde er sich niemals so verhalten.

Wer führt mich sicher durch gefährliches Gelände? | © Kevin Chen

In einer spannenden Frage am Ende des Vortrags wurde Dzongsar Khyentse Rinpoche gefragt: Wie soll man sich verhalten, wenn man sich in der reinen Wahrnehmung des Lehrers übt, und eine junge Frau erzählt, der Lehrer habe sie soeben geküsst und sie habe Angst, von ihm vergewaltigt zu werden? Dzongsar Khyentse Rinpoche riet dazu, dieser jungen Frau, vor allem, wenn sie ganz neu auf dem Weg sei, auf jeden Fall zu sagen, dass der Lehrer „ein Idiot“ sei. Dabei komme es auf die Motivation an, die junge Frau und ihre Entwicklung im Dharma beschützen zu wollen. Später könne man zum Lehrer gehen und ihm von dem Vorfall und der eigenen Reaktion erzählen. Womöglich sage der Lehrer dann sogar, „gut gemacht“. 

Buddhismus – ein ausgefeiltes System

Eine weitere Frage sprach Dzongsar Khyentse Rinpoche auf seine Rolle als Berater des „Rigpa Vision Board“ an. Ein Gerücht besage, er wolle einfach nur business as usual aufrecht erhalten. Dzongsar Khyentse Rinpoche entgegnete dazu, ihm gehe es darum, in der jetzigen Zeit eine Studien-Situation zu schaffen. „Wir müssen an den Buddha Dharma denken“, betonte er. „Die Welt braucht den Buddha-Dharma. Die Welt braucht eine Weisheitslehre wie die der Non-Dualität.“ Dieser Weg sei seit mehr als zweitausend Jahren gut getestet worden, nicht nur von Aussteigern und Hippies, sondern von sehr, sehr vielen Menschen, darunter Königinnen und Könige und Lehrbeauftragte an Universitäten. Der Buddhismus stelle ein komplexes und ausgefeiltes System dar, das es zu beschützen gelte. Er sehe die derzeitige Situation mit all den Zweifeln und den Verletzungen auch als eine positive Chance und einen Wendepunkt, um vorwärts zu gehen und den Dharma zu beschützen. Auch das gehöre zu den einzigartigen Qualitäten des Vajrayana: Es sei möglich, ungünstige in günstige Umstände zu verwandeln.

Am Ende forderte Dzongsar Khyentse Rinpoche seine Zuhörerinnen und Zuhörer auf, nun offen und mitfühlend zu sein. Vor allem diejenigen, die die Bodhisattva-Gelübde genommen hätten, müssten groß denken und alle Hindernisse entschlossen überwinden.

Wann ist es Zeit, Stop zu sagen? © Bethany Legg auf Unsplash

KOMMENTAR

Wir alle müssen noch sehr viel lernen | Susanne Billig

Dzongsar Khyentse Rinpoches Berliner Vortrag war durchaus von einer ernsthaften und engagierten Suche nach einer tragfähigen Standortbestimmung des Vajrayana und der Rigpa-Gemeinschaft angesichts der aktuellen Missbrauchsdebatte um Sogyal Rinpoche getragen. Der Lehrer aus Bhutan bemüht sich derzeit sehr darum, über den Vajrayana-Weg aufzuklären und falsche Interpretationen und Auffassungen zu korrigieren. Dabei findet er auffallend heftige Worte der Kritik für die Vermengung des Vajrayana mit den Ränkespielen tibetischer Politik und wünscht sich ein vertieftes buddhistisches Studium westlicher Schülerinnen und Schüler, aber auch ein ernstzunehmendes und vertieftes Interesse asiatischer Dharmalehrer für die Weltsichten westlicher Anhängerinnen und Anhänger. Auch der Hinweis, dass die tantrische Guru-Verehrung nicht als westliches Massenphänomen taugt, sondern wenigen gut vorbereiteten individuellen Beziehungen vorbehalten bleiben sollte, ist mehr als begrüßenswert, und man kann sich nur wünschen, dass die westlichen Ohren auch offen sind, dies zu hören und bescheiden zu akzeptieren. So weit, so sinnvoll und ehrenwert.

Für die Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen findet Dzongsar Khyentse Rinpoche allerdings wenig Worte und skizziert auch nicht, zu welchem Umgang er nun mit ihnen und ihren berechtigten Anliegen rät. Dzongsar Khyentse Rinpoches Augenmerk gilt vor allem der Lehre und deren Schutz. Hier arbeiten er und die Verantwortlichen bei Rigpa augenscheinlich Hand in Hand, was sich an der Auswahl der vorgegebenen Fragen zum Vortragsthema zeigte. Diese Fragen konnten doch sehr gemischte Gefühle auslösen, denn sie formten zwischen den Zeilen bereits eine Antwort vor: Es kann auf Seiten des Rigpa-Gründers nicht zu missbräuchlichem Verhalten gekommen sein, sondern muss sich um „Missverständnisse“ gehandelt haben, die ihrerseits in nebulösen „aktuellen sozialen und politischen Trends“ wurzeln. Anerkannt werden muss, dass die Veranstalter auch sehr kritischen schriftlichen Fragen der Besucherinnen und Besucher Raum gaben. Dennoch: „Missverständnisse“ blieb das Zauberwort, auch in den Ausführungen des Lehrers aus Bhutan. 

Der Schmerz im Raum bleibt ohne Ansprache

Alles dies hinterließ am Ende des Vortrags, so klug er ansonsten auch war, das schale Gefühl, der Vortragende und die Veranstalter verweigerten sich einer echten Konfrontation mit dem Schmerz, der im Raum steht. Dzongsar Khyentse Rinpoche blickt auf das Theoriegebäude, anstatt ausführlich auch über die konkrete fragwürdige Realität und Praxis innerhalb der Rigpa-Gemeinschaft zu sprechen. Das wirkt befremdlich kalt und unbeteiligt, denkt man an die Betroffenen gewalttätiger und sexueller Übergriffe. Menschen mit Namen und langen Lebensgeschichten innerhalb der Rigpa-Gemeinschaft wurden zutiefst verletzt, teils sogar ernsthaft traumatisiert. Selbst wenn ein Teil des Ursachengeflechtes in mangelnder Vorbereitung und oberflächlichen Anschauungen bei einigen westlichen Schülerinnen und Schülern Sogyal Rinpoches gelegen haben mag, steht eine Frage noch immer unbeantwortet im Raum: Wie berührbar möchten sie sich für das verursachte Leiden machen und wie sehr möchten sie dies auch öffentlich und den Betroffenen gegenüber kommunizieren – die Verantwortlichen bei Rigpa, ihr Berater Dzongsar Khyentse Rinpoche und Sogyal Rinpoche, der wie abgetaucht scheint und sich für Gespräche offensichtlich nicht zur Verfügung stellt? Denn: Wie will eine Gemeinschaft sinnvolle Konsequenzen ziehen, wenn sie sich dem angerichteten Schaden emotional verweigert?

Eine Randbemerkung noch: Auch Dzongsar Khyentse Rinpoches Ausführungen über die frühbuddhistischen Schulen hinterließen im Sinne eines guten innerbuddhistischen Dialogs leider keinen guten Eindruck. Zwar lagen seine Worte auf der Linie vieler Maha- und Vajrayana-Schulen, die der Idee anhängen, dass der Buddha zu Beginn seiner Lehrtätigkeit einfachere spirituelle Anleitungen gegeben habe, die sich später, mit zunehmendem Verständnis seiner Zuhörer, wandelten und vertieften, um zunächst zum Mahayana überzugehen und schließlich in den radikalsten und geistig am weitesten fortgeschrittenen Weg des Vajrayana zu münden.

Nach allem, was die Forschung über den historischen Buddha und über den buddhistischen Textkorpus weiß, ist dies nicht haltbar, sondern lässt sich zurückführen auf die Wanderung des Buddhismus von Indien nach China. Weil in das Reich der Mitte so verwirrend viele Sutras mit widersprüchlichen Vorstellungen einsickerten, entstand dort der Wunsch nach einer Klärung und darum die Idee, die Lehren im Leben des Buddha zu periodisieren und sie verschiedenen Lebens- und Lehrphasen des Buddha zuzuordnen. Tatsächlich stammen die für das Maha- und Vajrayana charakteristischen Texte und ihre philosophischen Vorstellungen aus einer Zeit lange nach Lebzeiten des Buddha – was ihnen selbstverständlich nichts von ihrer philosophischen Tiefgründigkeit und Weisheit nimmt. Jeder Mensch hat die Freiheit, die Weisheitslehren des Maha- und Vajrayana dem Theravada vorzuziehen, nur lässt sich dies im Licht eines auch buddhologisch haltbaren Buddhismus-Verständnisses eben nicht aus angeblichen Lehrphasen des Buddha begründen.

Es ist schade, wenn noch im Jahr 2018 angesehene buddhistische Lehrer es nicht verstehen, so über andere buddhistische Schulen zu sprechen, dass diese eine Wertschätzung erfahren, die nicht nur verbal behauptet wird, sondern beim Gegenüber auch mit einiger Wahrscheinlichkeit ankommt. Wer möchte schon gerne als Baby- und Aschenputtel-Fraktion tituliert werden? Da hilft es auch nichts zu erklären, dass allein das Vajrayana die Bürde auf sich nehme, sämtliche Schulen anzuerkennen. Insofern ist Dzongsar Khyentse Rinpoche im vollen Umfang beizupflichten: Wir alle müssen noch sehr viel lernen. 

Susanne Billig

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

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