Mitgefühl – treibende Kraft

Ein Beitrag von Ayya Yeshe übersetzt von Kirsten Schulte veröffentlicht in der Ausgabe 2021/1 Gemeinwohl unter der Rubrik Gemeinwohl.

Ich bin nicht mit der Idee groß geworden, eines Tages einen Tempel in den Slums Zentralindiens zu betreiben, oder eine Wohltätigkeitsorganisation. Aber es ist auch nicht ganz abwegig, denn mein Lieblingsfilm war „Meine Lieder, meine Träume“(1) und meine Vision, eine Nonne zu sein, die über Hügel rannte, auf Bäume kletterte und gelegentlich Menschen half!

© Pablo Medina

Was mich zuerst zur spirituellen Praxis hinzog, war der Tod meines Vaters. Da war ich vierzehn Jahre alt und geriet in eine existenzielle Krise mit einer schweren Depression und suizidalen Gedanken. Wenn das Leben endlich war – was niemand um mich herum zu verstehen schien, denn alle waren mit ihren Hypotheken mit 30-jähriger Laufzeit und einem dichten Netz aus Rückversicherungen und Rückzahlungen beschäftigt – was war dann wirklich wichtig? Wer sind wir, warum sind wir hier, und wohin werden wir gehen? Ich konnte mich mit dem weltlichen Leben nicht länger zufriedengeben. Die dringende Notwendigkeit, einen Ausweg aus dem Leiden zu finden, brachte mich dazu, meine katholische Mädchenschule zu verlassen und mich auf den Weg des Lebens zu machen.

Nach ein paar Jahren als Hippie, in denen ich Drogen, Sex, Beziehungen, achtsame Gemeinschaften und so weiter ausprobiert und nichts Bleibendes gefunden hatte, ging ich nach Indien, von dem alle meine Hippie-Freunde sagten: „Dort wirst du den Sinn des Lebens finden“. Was ich fand, war das Leben, oder besser: die Konfrontation mit dem Leben in maximaler Lautstärke, in all seiner Schönheit und seinem ganzen Elend. Alle, die die erstaunlichen Menschenmengen, die Pracht und die Armut Indiens gesehen haben, werden verstehen, warum die alten Weisen in den Wald gingen, um innere Klarheit zu suchen. Es ist zu überwältigend, um es zu begreifen. Ich sah ein Buch in einem Schaufenster und wurde sofort in seinen Bann gezogen. Es hieß „Wiedergeboren im Westen“ und darin fand ich ein Zitat: „Wenn eiserne Vögel am Himmel fliegen und Pferde auf Rädern laufen, wird das tibetische Volk wie Ameisen zerstreut werden, und der Dharma wird in das Land der Wilden (damit sind die Westler gemeint) mit den rosa Gesichtern gehen“. Für mich war das sehr ergreifend. Auf der Rückseite des Buches stand die Adresse eines Klosters, das Ausländern den Buddhismus lehrte. Ich ging dorthin und habe nie zurückgeblickt. Es war wie eine Heimkehr.

Als ich durch den Himalaya wanderte, sah ich Menschen, die nichts hatten. Ihre Häuser wurden regelmäßig von Schlammlawinen weggespült und sie ernährten sich fast ausschließlich von Kartoffeln und Reis. Trotzdem lächelten sie häufiger und konnten besser mit Krisen umgehen, als die meisten Menschen in Australien. Was ist es, was diese Menschen haben, diese Tibeter, die im Himalaya leben und ihr Land verloren haben? Was ist es, was sie haben und was uns Westlern fehlt – uns Westlern, die wir zum Mond fliegen können, aber keine Möglichkeit gefunden haben, Frieden zu finden? Mir wurde klar, dass sie über umfassende, wirksame und differenzierte innere Methoden verfügen, um Leiden zu transformieren und spirituelle Widerstandskraft und Mitgefühl zu entwickeln. Das wollte ich. Ich wollte ein Ende meiner unkontrollierten, verwirrten und unzulänglichen Art des Seins. Als ich erst einmal über die Symbolik des tibetischen Buddhismus und die Rituale hinausgekommen war, die ich sehr anziehend fand, verstand ich, dass die Grundlage des Ganzen Mitgefühl und die Offenlegung des verblendeten Anhaftens an ein Selbst ist. Wenn man aber nur seine eigene Verblendung und seinen eigenen Schmerz erkennt und loslässt, um einen kleinen Geschmack von Frieden zu bekommen, kann man dem täglichen Leben gegenüber ein wenig abweisend werden und vielleicht (nicht immer) ein bisschen zu sehr nach innen blicken. Das ist an sich keine schlechte Sache, aber ich glaube nicht, dass das der Endzustand ist, den der Buddha beabsichtigt hat. Vielmehr ist es der Beginn der spirituellen Praxis.

Letztendlich sollte unsere Praxis, unsere Verblendung und unser Leiden aufzudecken und zu transformieren, zu einem tiefen Verständnis von Verbundenheit und Empathie für andere Wesen führen. Wesen, die Mütter aus unseren vergangenen Leben sind, die so viel mehr sind als wir, die das Glück suchen, es aber so selten finden, die in den Wellen von Geburt, Krankheit, Alter und Tod taumeln und sich die Schlinge des Karmas immer enger um den Hals legen. Wenn man einmal die gegenseitige Abhängigkeit sieht und versteht, dass die eigene Existenz aufs Engste mit anderen verbunden ist: das Essen und die Kleidung und die Tatsache, dass man Augen hat, um einen Sonnenuntergang zu sehen, oder einen Körper, um die Liebste oder den Liebsten zu umarmen, oder sogar, dass man mit dem eigenen Namen unterschreiben und sich der Sprache bedienen kann, all das ist der Güte anderer zu verdanken. Wenn man das versteht, wird Bodhicitta geboren – der Geist des transzendenten Mitgefühls, der ein Buddha werden möchte, um alle Wesen aus samsara, dem Daseinskreislauf, zu befreien.

Wenn Bodhicitta geboren wird, müssen wir etwas damit anfangen. Ein*e Bodhisattva ist eine Person, die Bodhicitta hat und mit Mitgefühl begabt ist. Bodhi bedeutet mit allen guten Eigenschaften ausgestattet, frei von Defekten, und Sattva ist jemand mit dem Mut, nach der Befreiung anderer zu streben.

„Solange Raum bleibt, solange es Wesen gibt, die leiden, möge auch ich bleiben, um die Dunkelheit der Welt zu beseitigen“.

Shantideva

Ayya Yeshe

Die sechs paramis (Vollkommenheiten, zehn Paramis im Theravada) werden zu unserem Werkzeug, um die Knoten der Verblendung zu lösen, die uns so fest an das Rad der Existenz gebunden halten.

Transzendente Großzügigkeit

Es gibt drei Arten von Großzügigkeit:

Großzügigkeit wird auch durch die Praxis der anderen Vollkommenheiten ausgeübt. Für ethisches Verhalten bedeutet das zum Beispiel, dass man damit die Sicherheit gibt, dass niemand durch einen selbst geschädigt wird. Großzügigkeit wird auch durch Geduld und nicht zu hohe Erwartungen an eine Gegenleistung ausgedrückt, durch das Bemühen, anderen auf eine Weise zu helfen, die ihren Bedürfnissen entspricht, und schließlich durch das Siegel der Leere (tief in die Verbundenheit hineinsehen) wenn man gibt, so dass es keinen Geber, kein gegebenes Objekt und keinen Empfänger gibt. Indem man sieht, dass alles miteinander verbunden ist und dass man nur eine Bedingung in der Kette von Ursache und Wirkung ist, dass es kein dauerhaftes Selbst gibt – nur einen Körpergeist im Kontinuum, der in der leuchtenden Gegenwart entsteht, bleibt und aufhört –, nur dann ist es rechtes Geben, welches von Nutzen ist und nicht durch Egoismus oder Erwartung geleitetes Geben. 

Ethik

Ethik oder Tugend bedeutet, seinen Körper, seine Sprache und seinen Geist so zu kontrollieren, dass kein Schaden angerichtet wird.

Geduld

Es kann sehr schwer sein, Geduld zu haben, wenn man verleumdet, verraten und verletzt wird, aber Wut zerstört alles gute Karma, und daher beschützt die Geduld den Verdienst und Bodhicitta. Man sollte drei Arten von Geduld entwickeln:

Fleiß

Fleiß, Energie und Bemühen sind wesentlich, um auf dem spirituellen Weg voranzukommen. Es erfordert Mut und Standhaftigkeit, sich der Verblendung zu stellen und sie aufzulösen. Später, mit mehr Weisheit, wird es müheloser. Zu Beginn der Praxis hat man eher das Gefühl, dass man einen großen Felsen den Hügel hinaufrollt, aber danach geht es wie von selbst den Berg hinunter.

Patrul Rinpoche ermutigte seinen Schüler, sich jeden Tag mehr anzustrengen und sich an den tugendhaften Handlungen zu erfreuen. Man sagt, dass eine kostbare menschliche Wiedergeburt ohne Anstrengung wie ein Boot ohne Ruder ist: So werden wir niemals das Ufer des Nirwana erreichen. Wir haben keine Zeit zu verlieren, sondern müssen üben.

Konzentration 

Sammlung, samadhi, ist die fünfte zu entwickelnde Perfektion.

Weisheit

Weisheit bezieht sich auf das endgültige Verständnis von Interdependenz, Verbundenheit und Leere und wird erworben durch:

Weisheit entsteht, wenn der Kokon des Selbst abfällt und wir die Ursache-Wirkungs-Beziehung sehen, über die wir mit allem Sein verbunden sind – dass wir nicht eins sind mit, aber auch nicht getrennt von allen Dingen. Viele Bedingungen tragen zu der Existenz unseres Geist-Körper-Kontinuums bei, und man kann nicht sagen, dass der Geist auch nur für einen Moment gleich bleibt, da der Moment, wie ein Fluss, bereits in der Zeit weitergeflossen ist. Daher verwenden wir im Buddhismus nicht den Begriff „Seele“ oder Selbst, der etwas wirklich Existierendes impliziert, sondern wir verwenden das Wort „Geistesstrom“, das die subtile und bedingte Existenz, die wir haben (oder zumindest zu haben scheinen!), genauer und leichter beschreibt. Selbstlosigkeit und Verbundenheit zu verstehen bedeutet nicht, sich in einer Leere wiederzufinden, sondern vielmehr zu sehen, dass alles unter dem Himmel ineinander enthalten ist – dass Leere Fülle und Fülle Leere ist. Leere zu sehen bedeutet, frei zu werden, aber auch zutiefst mitfühlend, weil man sieht, dass das, was wir tun, Auswirkungen auf andere hat und dass sie mit uns verbunden sind – wir sind ineinander verwoben, ein wahres Intersein. Aus diesem Verständnis werden Mitgefühl und geschicktes Handeln geboren.

Die Flügel der Bodhisattvas

„Es ist unmöglich, die gesamte Erdoberfläche mit Leder zu bedecken, um nicht auf Dornen zu treten, aber wenn man seine eigenen Füße mit Leder bedeckt (seinen eigenen Geist umgestaltet), ist die ganze Welt dornenfrei.

Shantideva

Es wird gesagt, dass das Nirwana Bodhisattvas wegen ihres großen Mitgefühls nicht festhalten wird, dass sie wegen ihrer großen Verwirklichung aber auch nicht in Samsara eingesperrt sind. Bodhicitta bedeutet, echte Liebe für alle Wesen zu empfinden und von ihrem Elend berührt zu werden, aber auch, den Überblick über die richtigen Methoden zu haben, um es zu transformieren. Es ist nicht die begrenzte Liebe, die an eine bestimmte Person gebunden ist und so oft zu Bindung, Co-Abhängigkeit oder Enttäuschung führt. Seitdem ich Bodhicitta gefunden habe und Nonne geworden bin, habe ich das Gefühl, mehr Liebe und Befriedigung in meinem Leben gehabt zu haben, als ich jemals aus der bedingten Liebe in Beziehungen gewonnen habe. Ich denke, wir alle müssen versuchen, diese transzendente Liebe zu kultivieren, ganz gleich, ob wir allein, zusammen, verheiratet, alleinstehend, klösterlich oder als Haushälterin oder Haushälter leben; wir werden mit dem Feuer der Großherzigkeit brennen, und jede Handlung wird uns selbst und anderen Frieden, Freude und Erfüllung bringen. Als ich in der katholischen Schule war, sah ich das heilige Herz Jesu mit einer Dornenkrone darum herum. Für mich ist das ein tiefes Symbol für Mitgefühl. Die Dornen sind die Klarheit und die Weisheit, die wir durch unsere Einsicht erlangen, nachdem unser Leiden uns die Wahrheit von Intersein, Unbeständigkeit und Nicht-Selbst gezeigt hat. Aber diese Dinge sind nicht theoretisch, abstrakt und ohne Liebe, sie offenbaren eine leuchtende Weite und Fülle – das brennende Herz des Bodhicitta.

Manchmal haben wir romantische Vorstellungen vom Dharma, dass es uns möglich ist, „alles zu haben“, dass wir ohne Opfer praktizieren können. Ich kenne Leute, die in Frage stellen, ob Nonnen und Mönche noch eine Berechtigung haben. Warum können wir nicht einfach eine halbe Stunde am Tag meditieren und 40 – 50 Stunden pro Woche arbeiten, den perfekten Partner heiraten und unser Traumhaus bauen? Das können wir, aber Dharma braucht Zeit, es geht darum, etwas wegzunehmen, nicht mehr hinzuzufügen. Früher oder später werden all unsere Unwahrheiten und Selbsttäuschungen wegfallen. Ganz gleich, ob wir eine Laiin oder ein Laie, eine Nonne oder ein Mönch sind, das Dharma ist die Farbe der Wahrheit, die alles entfernt, was kein Gold ist. Für mich bedeutet das, das Leben bis auf seine wesentlichen Elemente zu entrümpeln und mit Bewusstheit, Einfachheit, Mitgefühl, Großzügigkeit und Nachhaltigkeit zu leben. Der Buddha richtete die vierfache Sangha ein (2), und das sind wir alle gemeinsam. Wenn man einen Teil davon entfernt, schadet das dem ganzen Sangha-Körper. Wir sind keine Bedrohung füreinander, wir vervollständigen uns gegenseitig.

Anmerkungen: 

1) Im Originaltext: „The Sound of Music“, Inhalt: Die aufmüpfige Novizin Maria verlässt das Kloster, heiratet, bekommt sieben Kinder und lebt in Salzburg. Die singende Familie flieht schließlich vor den Nazis. 

2) Anmerkung d. Übersetzerin: Die Gemeinschaft, die Sangha, setzt sich zusammen aus den vier Gruppen: Mönche (bhikkhus), Nonnen (bhikkhunis), Laienanhängerinnen (upasikas) und Laienanhängern (upasakas). 

Weitere Informationen:

Der Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht auf: 
buddhistinsights.org/the-power-of-compassion/

Mehr über Ayya Yeshes Arbeit können Sie auf der Website der Bodhicitta Foundation lesen, das ist die von ihr gegründeten Organisation, die Bildung, Beschäftigung, medizinische Workshops, Beratung, Ernährungsberatung und andere Dienstleistungen für Männer, Frauen und Kinder in Indien anbietet:
bodhicitta-vihara.com 

Ayya Yeshe

Ayya Yeshe stammt aus Australien und wurde 2001 mit 23 Jahren als Nonne ordiniert. Sie praktiziert in tibetisch-buddhistischer Tradition, arbeitet als Sozialarbeiterin, ist Direktorin der Hilfsorganisation Bodhicitta Foundation und Gründerin von Bodhicitta Vihara, einem buddhistischen Tempel, der sich für arme und marginalisierte Menschen in Nagpur, Zentralindien einsetzt.

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