Sterbeprozess und Tod

Ein Beitrag von Erle Johanna Eilers, Prof. Dr. med. Jens-Karl Eilers veröffentlicht in der Ausgabe 2016/3 Vom Leben und Sterben unter der Rubrik Vom Leben und Sterben.

In diesem Beitrag loten Erle Johanna und Jens-Karl Eilers den Prozess der Sterbens und das Phänomen des Todes aus tibetisch-buddhistischer Sicht aus. Und sie stellen die Frage: Was unterscheidet Erkenntnisse, die aus der Praxis des Dharma kommen, von dem beweisbaren Wissen der Naturwissenschaften?

Erle Johanna Eilers: Ich war gerade 24 Jahre alt, als ich 1990 Kontakt zum tibetischen Buddhismus bekam. Eine Freundin berichtete voller Vorfreude, dass sie in Griechenland einen Phowa-Kurs mitmachen wolle. Was ich im ersten Moment für eine esoterische Spinnerei hielt, erwies sich als eine seit Jahrtausenden überlieferte Meditationspraxis. Das „Bewusste Sterben“ gehört zu den sogenannten sechs Lehren Naropas, Meditationsübungen, die das Kontrollieren der Körperenergien nutzen. Keine Lehre kennt genauere Beschreibungen vom Ablauf der Prozesse im Sterben, im Tod und  im Wiedergeborenwerden.

Wie alle Lehren im Buddhismus gehen auch diese zurück auf Buddha Shakyamuni, der sehr unterschiedliche methodische Ansätze vermittelt hat, wie Menschen letztlich denselben geistigen Zustand verwirklichen können, wie er selbst dies vermocht hat. Dabei gilt es, wie er das eigene innewohnende Potenzial zu entfalten. Jede Lebenssituation kann dazu als Ausgangssituation genutzt werden, und auch der Tod mit den davor und danach ablaufenden Prozessen bietet uns wunderbare Möglichkeiten, den eigenen Geist zu erkennen.

Ebenso, wie aus einem Kirschkern nie eine andere Pflanze als eben ein Kirschbaum wachsen kann, hat jedes Phänomen eine spezifische Ursache für seinen Ausdruck. Bezieht man dieses Verständnis auf das eigene Erleben, wird klar, dass wir vollkommen eigenverantwortlich die Ergebnisse früherer Gedanken, Worte und Handlungen erleben und zeitgleich ununterbrochen mit unserem Tun die Zukunft festlegen. So ist auch der eigene Körper eine karmische Wirkung, die im Moment der Zeugung beginnt und unter entsprechenden Bedingungen einmal aufhört. Das zeigt sich dann als Sterbeprozess und Tod.

Das Sterben selbst beginnt nach den Lehren im tibetischen Buddhismus1 mit dem Zusammenziehen aller Energien in unsere magnetische Zentralbahn, die vollkommen gerade vom obersten Scheitelpunkt bis ca. vier Finger breit unterhalb des Nabels durch unsere Körpermitte verläuft. Dabei lösen sich die Elemente des Körpers ineinander auf, bis der letzte Atemzug äußerlich den Tod feststellen lässt.

Im tibetischen Buddhismus wird erklärt, dass das Sterben noch weiter geht. In den folgenden 20 bis 30 Minuten nach dem letzten Ausatmen vollendet sich der Prozess, erst dann hat sich das Bewusstsein ganz vom Körper gelöst. Dabei sinkt in den ersten 10 bis 15 Minuten vom Scheitelpunkt am oberen Ende der Zentralbahn eine weiße Energie, die im Moment der Zeugung vom Vater mitgegeben wurde, ins Herzzentrum. Das erinnert an die Berichte von Menschen mit Nahtod-Erfahrungen, die ein helles Licht am Ende des Tunnels beschreiben. In dieser Zeit lösen sich bestimmte Erinnerungen, Gefühle und Vorstellungen auf, was von Sterbenden sehr unterschiedlich erlebt werden kann. In den weiteren 10 bis15 Minuten bewegt sich eine rote Energie – von der Mutter erhalten – unterhalb des Nabels ins Herzzentrum und die letzten starken Anhaftungen an den Körper und auch an das frühere Leben mit all seinen Aspekten verschwinden. Dann hört jeder Eigenausdruck auf und es gibt nur Bewusstsein. Ein vollkommen freier Moment, schwarz und still – und dann zeigt der Geist seine ganze Strahlkraft frei von Sinneseindrücken, Erwartungen und gemischten Gefühlen. Der Erlebende erfährt allein sich selbst – ein kostbarer Moment, den Geist zu erkennen!

Ohne Übung, diesen Moment zu nutzen, durchläuft das Bewusstsein dann insgesamt einen sieben Wochen andauernden Zwischenzustand (tibetisch: bardo) bis zu seiner nächsten Existenz, die wieder entsprechend der gespeicherten karmischen Eindrücke erlebt wird.

Der Buddhismus beschreibt also den unerleuchteten Geisteszustand als einen Strom erlebensfähiger bewusster Momente, der bis zur vollen Erleuchtung nicht abreißt. Seine zeitlosen Qualitäten werden im Zuge des Nichterkennens als begrenzende Gefühle erlebt, die je nach Stärke und Inhalt einen entsprechenden Daseinsbereich aufscheinen lassen. So wird alles zwischen „Himmel“ und „Hölle“ als Geisteszustand verstanden, immer ein Eigenausdruck des Geistes selbst.

Seit dem Phowa-Kurs vor 25 Jahren in Berchen Ling in Griechenland habe ich das Glück gehabt, fast jährlich diese Übung vertiefen zu können. Es gibt unterschiedliche Übertragungen zum Phowa, und dieses von Lama Ole Nydahl gelehrte stammt aus der Longchen-Nyingthig-Tradition der Nyingma-Schule2. Phowa gehört zu den Lehren, in die sich die Übenden unvoreingenommen ohne vorherige Erklärungen begeben, um ohne Vorstellungen ganz frei die eigenen Erfahrungen machen zu können. Wir lernen kurz gesagt, bewusst den Sterbeprozess auf der energetischen Ebene zu durchlaufen. Nach einführenden Erklärungen und gemeinsamer Vorbereitung folgt die angeleitete Praxis, ein Wechsel von der traditionell gesungenen Anrufung des Kraftkreises des „Buddha des Grenzenlosen Lichtes“ (tibetisch: Öpame, Sanskrit: Amithaba) und konzentrierter Momente, das Bewusstsein dorthin zu übertragen. Hier öffnet sich die innere zentrale Energiebahn am Scheitel – ein individuell sehr unterschiedlich erlebter Moment. Diese Öffnung bleibt energetisch bestehen und im Sterben können wir diese Übung in guter Vorbereitung dann sehr leicht nutzen.

Ich habe Kurse mit wenigen und sehr vielen Teilnehmenden erlebt, man teilt wirklich tiefe Erfahrungen und eine erlebnisreiche Zeit, auch im Austausch mit Freunden. In diesen Tagen wächst man zusammen, zurückgezogen an einem ungestörten Ort, was nicht selten Zelten im Regen bedeutet.

Viele erleben das Phowa als einen tiefen Wendepunkt in ihrem Leben, weil der Bezug zum Tod sich ändert. Es beginnt ein Prozess, immer tiefer die Angst vor dem Sterben zu verlieren, was eine weitgreifende Wirkung im Leben bedeutet, denn hieran koppeln sich viele unserer Ängste. So wächst eine grundlegende Sicherheit, aus der heraus man mit mehr Freude für sich und andere nützlich sein kann. Das ist ein sehr individueller Prozess, der mit dem Kurs selbst seinen Anfang nimmt.

Abschließend zu der Praxis wird am Kursende dann nach dem „äußeren Zeichen“ geschaut, das Öffnen der Energiebahn hinterlässt kurzfristig auch physisch eine Spur. Dafür wird jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer einzeln angeschaut, und zum Glück müssen wir dabei nicht als Beweis der gelungenen Praxis einen Grashalm in die Scheitelöffnung stecken – so wie es nach alter Tradition in Tibet üblich ist.

Interessant ist für mich dabei immer wieder, inwieweit wir überhaupt von „Beweisen“ sprechen können. Den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen unserer Zeit haben wir ja sehr viel zu verdanken und sie prägen deshalb unser Verständnis auf vielen Ebenen. In den zahlreichen Gesprächen, die ich mit meinem Mann, der Hirnforscher ist, zu diesem Thema führe, zeigt sich mir immer wieder der Unterschied in den Sichtweisen: Der Buddhismus selbst versteht sich als Geisteswissenschaft und Methode, die sich allein durch die direkte Eigen-Erfahrung bestätigt. Die Naturwissenschaft geht hingegen von einem unabhängigen Beobachter in Bezug zu einem Objekt aus.

Diese Erklärungen zum Sterbeprozess beispielsweise sind für den Naturwissenschaftler nicht „beweisbar“ – oder wie siehst  du das, Jens?

Jens-Karl Eilers: Von „beweisbar“ kann in der Naturwissenschaft ganz grundlegend nicht die Rede sein. Ganz themenunabhängig gilt es zu verstehen: Wir können mittels der Forschung Indizien erheben und Hypothesen stützen – beweisen können wir sie letztlich nicht.

Und die buddhistische Sicht auf den Sterbeprozess unterscheidet sich ganz offensichtlich von derjenigen der westlichen Medizin, bei der es mit dem klinisch diagnostizierbaren Hirntod „zu Ende“ ist. Er lässt sich nicht durch naturwissenschaftliche Untersuchungen belegen, denn die beschriebenen Prozesse sind mittels naturwissenschaftlicher Methoden nicht messbar. Bei den Begriffen „Energien“, „magnetische Zentralbahn“, “Elemente“ handelt es sich ja nicht um die Dinge, die ein Physiker oder Chemiker mit diesen Worten verbindet – die „rote Energie der Mutter“ ist mit keinem Messgerät dieser Welt erfassbar. Ebenso kann seitens der Naturwissenschaften keine Bestätigung für das „Erleben im Zwischenzustand“ erwartet werden, denn wie sollte ein Team (lebender) Untersuchender hiervon Kenntnis erlangen?

Naturwissenschaft basiert nur auf dem Prozess der Hypothesengenerierung und der anschließenden experimentellen Untersuchung, die diese stützt oder widerlegt. Für einen Naturwissenschaftler sind die im Buddhismus beschriebenen Prozesse des Sterbens erst einmal Hypothesen, und es gilt: Eine Hypothese, die experimentell nicht untersucht werden kann, wird aus der Naturwissenschaft ausgeschlossen – sie kann seitens der Naturwissenschaften keine Bestätigung erwarten. Dabei gilt zu unterscheiden:

Nach meinem Verständnis handelt es sich bei den im tibetischen Buddhismus beschriebenen Prozessen um Dinge, die grundsätzlich nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden können: Die „Energien“ sind nicht physikalischer Natur und werden mit keinem Messgerät erfassbar sein; der Bewusstseinsstrom eines seit Tagen Verstorbenen wird durch keine Befragung eines Forscherteams untersucht werden können. Entsprechend kann weder von einer Bestätigung noch von einer Widerlegung der buddhistischen Sicht durch die Naturwissenschaften gesprochen werden.

Aber vielleicht liege ich hier auch falsch und der Tod ist nicht prinzipiell sondern nur derzeit nicht untersuchbar. Vielleicht finden wir in Zukunft eine Möglichkeit, die Prozesse nach dem Tod naturwissenschaftlich zu untersuchen. Das verspräche spannende Zeiten sowohl für die Wissenschaft als auch den Buddhismus! Und da wäre ich als Forscher dann wieder gerne dabei.

Wie geht man als Buddhist und Naturwissenschaftler mit der notwendigen Trennung der beiden Bereiche um? Als Naturwissenschaftler betrachte ich die buddhistische Sicht des Sterbeprozesses als Hypothese, die ich nicht so untersuchen kann, dass ich die Ergebnisse mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft sinnvoll diskutieren könnte. Ganz persönlich für mich nehme ich sie als Hypothese und prüfe zum einen, ob sich irgendwo noch eine bessere anbietet, und zum anderen, in Richtung auf „ mein Experiment“, mein Sterben, das von anderen nicht einsehbar sein wird, ob sie sich bestätigt. Als Buddhist vertraue ich darauf, dass die Lehre im Bereich des Sterbeprozesses ebenso Sinnvolles und Richtiges anbietet wie in denjenigen Bereichen, die durch direktes Erfahren im jetzigen Leben für mich überprüfbar sind.

ANMERKUNGEN:

  1. Vgl. Lama Ole Nydahl: „Von Tod und Wiedergeburt“, Knaur Verlag, 2011
  2. Detlev Göbel: „Die Übertragung unserer Phowa-Praxis“ in Buddhismus Heute, Nr.1, 1996

Erle Johanna Eilers

Erle Johanna Eilers ist Grafikerin, seit 1990 Schülerin von Lama Ole Nydahl und unterrichtet Diamantweg-Buddhismus seit 2000.

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Prof. Dr. med. Jens-Karl Eilers

Prof. Dr. med. Jens-Karl Eilers ist an der Universität Leipzig als Hirnforscher tätig.

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