Im Heiligen Land: Eine interreligiöse Reise nach Jerusalem

Ein Interview mit Nils Clausen geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2020/3 Transformation unter der Rubrik Buddhismus in der Welt.

Als Buddhist in interreligiöser Gemeinschaft das Ursprungsland der abrahamitischen Religionen besuchen – das ist eine Reiseerfahrung der besonderen Art. Nils Clausen hat sie Ende letzten Jahres gemacht und berichtet davon im Gespräch.

Interreligiöse Reise nach Jerusalem – Vor dem Felsendom

BUDDHISMUS aktuell: Eine interreligiöse Reise nach Jerusalem – wie kam es dazu und wer ging da auf Reisen? 

Nils Clausen: Seit einigen Jahren arbeite ich im Interreligiösen Forum Hamburg mit und wir hatten schon lange geplant, eine gemeinsame Reise zu den Quellen der abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam, zu machen. Im Dezember letzten Jahres war es dann so weit. Unsere Reisegruppe bestand aus insgesamt 14 Vertreterinnen und Vertretern – der evangelischen Kirche, der jüdischen Gemeinde, der islamischen Schura, der alevitischen Gemeinschaft und der Bahai-Gemeinschaft. Ich war als Vertreter der Buddhistischen Religionsgemeinschaft dabei. 

Was hat dich – als Buddhist – gelockt, eine Reise zu unternehmen, die zu den heiligen Stätten von Religionen führt, die du selbst gar nicht ausübst? 

Im interreligiösen Dialog stößt man immer wieder auf Verbindendes und Trennendes. Man spricht nicht nur über das tägliche Miteinander der jeweiligen Religionsangehörigen, sondern manchmal auch über komplexe theologische und religionsphilosophische Fragen. Da stellt man schnell fest, wie wenig die Beteiligten über die grundlegenden Vorstellungen der anderen Religionen wissen. Je tiefer das gegenseitige Verständnis ist, desto besser funktioniert der Austausch auf theologischer Ebene – und in Jerusalem kann man gleich drei Weltreligionen besser verstehen lernen. Als Buddhist ist mir das wichtig, weil ich den interreligiösen Dialog inzwischen als einen wichtigen Teil unserer westlichen Dharmapraxis ansehe. 

Welche Orte haben dich auf der Reise besonders beeindruckt? 

Unser Programm hatten der Landesrabbiner Shlomo Bistritzky und der Geschäftsführer des Interreligiösen Forums, Thomas Kärst, gemeinsam organisiert – und es war für die vier Tage, die wir für diese Reise überhaupt nur veranschlagt hatten, sehr umfangreich. Wir waren auf dem Tempelberg, wo die zentralen islamischen Heiligtümer Felsendom und al-Aqsa-Moschee stehen. Wir haben die Klagemauer und die 2 500 Jahre alten unterirdischen Gänge und Gewölbe an ihrem Fuß besucht, waren in der Grabeskirche und haben an einer Führung durch Mea Shearim teilgenommen, einem von Frömmigkeit und Weltabgewandtheit geprägten Stadtviertel, in dem nur Ultraorthodoxe leben. Im rund 150 Kilometer entfernten Haifa habe wir dann noch die Universität und die Gärten der Bahai-Gemeinschaft besucht. 

Mich, aber auch meine Mitreisenden, hat vor allem die spirituelle Energie beeindruckt, die an einigen dieser Orte intensiv zu spüren war. In der Grabeskirche konnten wir viele Gläubige beobachten, die voller Entrückung und Hingabe waren. Ebenso in Mea Shearim: Unser Führer war ein Journalist, der sich hier sehr gut auskennt. Er hat uns zur Wirkstätte des einflussreichen, 2012 im Alter von 102 Jahren verstorbenen Rabbiners Joseph Schalom Elyashiv geführt. In seiner kleinen Jeshiwa, also einer Hochschule für das Talmudstudium, hat sich offensichtlich alles um das Studium heiliger Schriften und das Gebet gedreht. Uns hat das dazu inspiriert, über das Mysterium und die Hingabe in unseren Traditionen zu sprechen und nach Ähnlichkeiten zu suchen. Es muss immer auch, da waren wir uns einig, so etwas wie eine emotionale Seite in der religiösen Praxis geben, und es ist das Mysterium, das uns emotional tief erfassen kann. 

Werkstätte des Rabbiners Joseph Schalom Elyashiv
Bar-Mitzwa an der Klagemauer

Sicher wart ihr auch in Yad Vashem … 

… der zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust – selbstverständlich waren wir auch dort. 

Ich war nicht das erste Mal in Yad Vashem. Dieser Ort hat eine besondere Stimmung.  

Er lässt einen das Grauen und die Ohnmacht spüren, die durch den Holocaust über das jüdische Volk gekommen sind. Die vielen kleinen Details der planvollen Vernichtung, das Zwielicht, durch das man sich bewegt, die Architektur mit ihren beklemmenden unterirdischen Tunneln – das alles lässt einen erahnen, wie der Terror sich damals angefühlt haben muss. Am Ende kommt aber die Befreiung, in Form einer großen Öffnung, durch die man einen Blick über eine wundervolle Landschaft werfen kann, die sich dort erstreckt. Das ist nach all dem Schrecken wirklich befreiend. Mir ist noch aufgefallen, dass wir danach vergleichsweise wenig über unsere Eindrücke gesprochen haben. Das lag wohl daran, denke ich, dass die Shoah ein Thema ist, bei dem einem häufig einfach die Worte fehlen. 

Welche menschlichen Reisebegegnungen wirken nach? 

Nach dem Besuch der Grabeskirche hat uns der evangelisch-lutherische Bischof Ibrahim Azar in seinem Amtssitz empfangen. Er hat uns von seinem persönlichen Leben erzählt und von der Geschichte der Protestanten in Israel. Ibrahim Azar ist Palästinenser und hat nicht nur eine christliche, sondern auch eine arabische Perspektive auf das Land und seine Konflikte. In Israel gibt es viele Konfliktlinien und Spaltungen. Dass solch eine Zerrissenheit nicht nur zwischen Völkern, Religionen und Parteien herrscht, sondern auch quer durch einen Menschen gehen kann, war ein berührendes Erlebnis. 

Nicht nur in dieser Begegnung, sondern insgesamt haben wir auf der kurzen Reise den jüdisch-palästinensischen Konflikt überall gespürt, und wir haben gemeinsam viel darüber nachgedacht, wie es zu Konflikten, insbesondere zwischen den Religionen, kommt, welche Ursachen dabei eine Rolle spielen und wie Lösungsansätze aussehen könnten. Eines ist sicher: Wo es an Toleranz und gegenseitigem Respekt mangelt, werden Konflikte beinahe unlösbar. Ein Symptom für die Schwere des Konflikts in Israel könnte man darin sehen, dass der interreligiöse Dialog dort kaum eine Rolle spielt. Ohnehin sind die Religionen in diesem Konflikt unauflösbar mit Politik und Nationalismus verquickt und haben es daher schwer, etwas zur Problemlösung beizutragen. Auch das konnten wir auf dieser Reise deutlich erkennen. 

Bischöfin Fehrs in der Grabeskirche

Eine weitere Begegnung hattet ihr mit Professor Mustafa Abu Sway von der al-Quds-Universität Jerusalem. 

Ja, als Gesprächsthema war eigentlich der interreligiöse Dialog geplant gewesen, wir kamen dann aber schnell auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Professor Mustafa Abu Sway hat uns die Benachteiligung und das Leiden der Palästinenser auf eine Art vor Augen geführt, die uns alle ziemlich beeindruckt hat. Aus Sicht der Palästinenser sind sie in jeder Beziehung benachteiligt. Das fängt bei der Verteilung des Wassers und anderer Ressourcen an, setzt sich über die schlechteren Bildungs- und Berufschancen und eine schlechtere Gesundheitsversorgung fort und geht bis hin zur politischen Benachteiligung. Auf die Frage, was die Ursache dieser allgegenwärtigen Diskriminierung sei, hatte er eine eindeutige Erklärung: Dies sei der von Theodor Herzl postulierte Zionismus, in dessen Judenstaat kein Platz für Nichtjuden sei. Diese könnten keine gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürger Israels werden. Das klang für mich zunächst erschütternd schlüssig. Erst nach meiner Rückreise habe ich überprüft, ob Theodor Herzl sich wirklich so geäußert hatte. Ich habe festgestellt, dass das nicht der Fall ist – vielmehr sprach er davon, dass man „den Andersgläubigen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsgleichheit gewähren wolle.“ Ich nehme aus dieser Begegnung mit, dass leidenschaftliches Engagement manchmal unmerklich in Propaganda übergehen kann. 

Reisen verändert, heißt es. Hast du Anregungen für deine religiöse Praxis mit nach Hause genommen? 

In Israel lernt man vor allem, dass es keinen gesellschaftlichen Frieden geben kann, wenn die Religionen nicht friedvoll miteinander umgehen. Da verspürt man plötzlich eine große Dankbarkeit, dass bei uns der interreligiöse Austausch bei Weitem besser funktioniert. In Israel bekommt man vor Augen geführt, dass das nicht selbstverständlich ist und man sich aktiv dafür einsetzen muss, dass es bei uns so bleibt. Es gab auf unserer Reise allerdings auch positive Beispiele, etwa eine Begegnung mit sehr selbstbewussten und freundschaftlich miteinander verbundenen Studentinnen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit in Haifa. 

Ansonsten hat es auch viele interessante Gespräche innerhalb unserer Gruppe gegeben – gar nicht immer mit Bezug zu Israel. Wir haben beispielsweise viel über „Handeln als Teil der religiösen Praxis“ geredet, insbesondere in Bezug auf gesellschaftspolitisch wichtige Herausforderungen wie Rassismus, soziale Ungerechtigkeit, Kriegselend und Umweltzerstörung. Bei uns tut sich besonders die evangelische Kirche seit Jahren mit vielen Projekten hervor. Sie sieht das nicht nur als Teil ihrer Praxis, sondern auch als Weg, weiterhin gesellschaftlich wahrnehmbar und relevant zu sein. Ich denke, dass wir Buddhistinnen und Buddhisten uns ebenfalls in diese Richtung bewegen sollten – wenn es unser Ziel ist, gesellschaftlich relevanter zu sein. 

Wichtig war für mich auch die menschliche Erfahrung mit der ganzen Reisegruppe. Im Interreligiösen Forum Hamburg sind wir uns nun spürbar nähergekommen und aus loser Verbundenheit ist gegenseitige Wertschätzung geworden. Ich kann mir gut vorstellen und hoffe auch, dass die Reise zur Grundlage einer neuen Qualität unseres interreligiösen Dialogs wird. 

Letztes Gruppenbild am Strand von Tel Aviv

Vielen Dank für das Gespräch!

Nils Clausen

ist Fotograf und Inhaber einer Werbeagentur. Sein buddhistischer Weg begann bereits in seiner Jugend in einem Zen-Dojo bei Paris. Später besuchte er verschiedene Schulen der Karma-Kagyü-Linie, hat seine buddhistische Heimat jetzt bei Thich Nhat Hanh gefunden und ist derzeit Mitglied im Rat und Vorstand der DBU.

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