Eine Umkehr im tiefsten Sitz des Bewusstseins

Ein Interview mit Dharmapriya geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2020/3 Transformation unter der Rubrik Transformation. (Leseprobe)

Was bedeutet persönliche Transformation im Buddhismus? Wie nah, wie fern stehen sich Dharma und Psychotherapie? Welche Zutaten müssen zusammenkommen, damit Transformation geschehen kann? Dharmapriya ist Ordensmitglied der buddhistischen Gemeinschaft Triratna. Sein Name bedeutet: „derjenige, der den Dharma liebt“.

Dharmapriya: Eine Umkehr im tiefsten Sitz des Bewusstseins

BUDDHISMUS aktuell: Gerne möchte ich mit dir über persönliche Transformationsprozesse im Buddhismus sprechen. Was ist dabei in deinen Augen wesentlich? 

Dharmapriya: Es ist die Bewegung vom unerleuchteten zum erleuchteten Geist – das Höchste, was man sich vorstellen kann, extrapoliert zu etwas noch Höherem. Mitgefühl, Weisheit und Energie zu einer so hohen Potenz entfaltet, dass unsere Alltagsworte in Anführungszeichen gestellt werden müssen. Ein lohnendes Ziel also. Welches andere Lebensziel könnte da mithalten? Das Problem ist, dass „Erleuchtung“ undefinierbar ist – jenseits von Ratio und Begrifflichkeiten. Das heißt, man peilt eine Richtung an, kann aber das Ziel nur vage identifizieren. Die Gefahr dabei ist, dass man auf dem Weg zu früh anhält, weil man sich täuscht und die Vorstellung hat, man hätte das Ziel schon erreicht. Doch um an die Wurzeln des Leidens zu kommen, muss man auch an die Wurzeln der Persönlichkeit gehen und buchstäblich alles infrage stellen. Die Lehre des Buddha ist radikal. 

Im Westen bieten sich Psychologie und Psychotherapie als wichtige Werkzeuge an, um Entwicklungsprozesse herbeizuführen. Inwiefern überschneiden sich deren Ansätze mit dem Buddhismus – inwiefern sind die Wege verschieden? 

Menschen brauchen eine Grundlage, um den Dharma ernsthaft üben zu können. Ein „happy healthy human being“, ein glücklicher gesunder Mensch, hat dafür die besten Voraussetzungen. Viele Menschen in westlichen Kulturen sind mehr oder weniger neurotisch oder haben schwerwiegende persönliche Probleme. Hier kann Psychotherapie sehr hilfreich sein. Oft beginnen Menschen mit der Vorstellung zu meditieren, das würde so wie eine Psychotherapie wirken; ich schließe mich da selbst mit ein. Doch die beiden Ansätze überschneiden sich nur zum Teil. Der Dharma geht weg vom Leid, hin zum höchsten Glück. Die Psychotherapie will Leid beseitigen und Menschen gesünder und glücklicher machen. Hier sind große Ähnlichkeiten. Aber bei den meisten Psychotherapien geht es darum, innerhalb von samsara, der gewöhnlichen Welt, zu funktionieren und glücklicher zu sein. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass man im Buddhismus mit Karma arbeitet. Man geht also davon aus, dass die eigenen Handlungen Folgen haben werden. Der Buddhismus sagt: „Wenn Menschen glücklich werden möchten, müssen sie ethischer leben.“ Diese Vorstellung gibt es in Psychotherapien nicht unbedingt, eher sucht man in der Vergangenheit der Patientinnen und Patienten nach Ursachen für ihr Leiden, die häufig nichts mit ihren eigenen Handlungen zu tun haben. Dennoch muss es da keine Gegnerschaft geben: Aus buddhistischer Perspektive kann Psychotherapie eine sinnvolle erste Stufe auf einem persönlichen Entwicklungsweg sein. 

Aus der Perspektive des Dharma: Was transformiert uns? Die buddhistische Ethik? Die Meditation? 

Soweit wir wissen, lehrte der historische Buddha gegen Ende seines Lebens: Um Weisheit voll zu entfalten, musst du deine Meditation voll entfalten. Und wenn du deine Meditation voll entfalten willst, musst du deine Ethik vervollkommnen. Das heißt, du musst absolut ethisch leben, wenn du deine Meditation vervollkommnen willst. Und wenn du wirklich konsequent gut meditieren möchtest, musst du außerhalb der Meditation im Einklang mit der Meditation leben. 

Ein Beispiel, das ich an dieser Stelle gern anführe, ist metta bhavana, die Pflege von liebevoller Güte. Wenn wir 30 Minuten am Tag auf dem Kissen sitzen und anschließend voller Misstrauen und unterschwelliger Aggression durch den übrigen Tag laufen: Wie wahrscheinlich ist es, dass auf dem Kissen etwas passiert? Und selbst wenn etwas passiert – wozu? 

Es kann also nur darum gehen, positive Qualitäten auf dem Kissen und jenseits des Kissens zu entwickeln. Dasselbe gilt für die Achtsamkeit. Die berühmten letzten Worte des historischen Buddha lauteten nicht zufällig: „Übt mit Achtsamkeit weiter.“ Um Achtsamkeit zu entwickeln, brauchen wir die Meditation. Wir brauchen aber auch AchtsamkeitaußerhalbderMeditation,um in der Meditation überhaupt gesammelt sein zu können. Wir dürfen auch außerhalb der Meditation keine berauschenden Mittel zu uns nehmen, weil das die Achtsamkeit zerstört. 

Alles greift ineinander … 

So ist es. Meditation allein hat keine dauerhafte Wirkung. Wenn du damit aufhörst, wirst du zurückfallen. Meditation kann unter Umständen ethisch neutral sein. Man kann sie auf viele Weisen einsetzen. Militärische Spezialeinheiten in den USA üben sich in Meditation und Achtsamkeit. Zu welchem Zweck? Um effektiver zu töten? Aber auch Ethik, wenn man sie isoliert einsetzt, löst das Problem des Leidens nicht und bringt uns nicht zum buddhistischen Ziel. Als Grundlage aber ist sie unersetzlich. 

Mein Lehrer Sangharakshita hat mir einmal etwas Wichtiges gesagt, als ich ihn fragte, was er damit meint, wenn er sagt: „Die Praxis besteht nicht nur aus Meditation.“ Der Hintergrund meiner Frage war meine Beobachtung, dass es den meisten von uns so unglaublich schwer fällt, die Einsichtspraktiken, die zu Weisheit führen, auch im Alltag aufrechtzuerhalten und konsequent zu üben. Sangharakshita gab mir den Rat, im Alltag auch dann zu helfen, wenn ich nicht helfen möchte. Etwas für andere tun, wenn du es wirklich nicht tun willst – Selbstüberwindung als systematische Praxis. Das hat einerseits mit Ethik zu tun und mit dem Vorsatz, liebevolle Güte auszuüben. Doch gleichzeitig ist es eine direkte Konfrontation mit dem eigenen Selbstbild und der eigenen Gier, also eine Art Einsichtspraktik im Alltag. Wenn du Ethik wirklich übst, tust du das einerseits in der Meditation, aber du konfrontierst dich auch im Alltag direkt mit der Unwissenheit in den Mustern deines Denkens, Fühlens und Handelns. 

Wie kann man sicherstellen, dass es nicht zu so etwas wie einer „Scheintransformation“ kommt, also dass wir ein künstliches Lächeln aufsetzen oder einen künstlichen Ernst an den Tag legen, weil wir meinen, dass es sich für eine Buddhistin, einen Buddhisten so gehört? 

Meine Erfahrung ist: Du kannst das nicht hundertprozentig vermeiden. Ein kleines Beispiel: Als ich mit Metta Bhavana anfing, begann ich zu lächeln, um in Kontakt mit meiner Herzenswärme zu kommen. Damals habe ich mich auch gefragt: Inwieweit ist das „pseudo“ und inwieweit kommt es aus einer tatsächlichen Empfindung? Eine klare Antwort habe ich nie finden können. Ja, dieses Problem gibt es. Es besteht weniger darin, dass Menschen bewusst unehrlich sein wollen, sondern es kann sein, dass sie anderen einen Gefallen tun oder nett sein möchten oder sie versuchen, spirituell voranzukommen. Vielleicht ist das gar nicht zu vermeiden, denn wenn wir uns weiterentwickeln, geht häufig ein Teil von uns schneller voran, typischerweise das intellektuelle Verständnis. Die anderen Teile müssen das nachholen. Das klingt jetzt paradox, aber um voranzukommen, müssen wir desintegrieren, dann wieder integrieren – und dann wieder desintegrieren. Mitunter kommt es dann vor, dass wir schauspielern, ohne es zu wollen. Was kann man dagegen tun? Bei Triratna legen wir sehr viel Wert auf Sangha, also Gemeinschaft, und auf Kommunikation. Es ist wichtig, tief in Kontakt zu sein mit mindestens einem anderen Menschen und diese Person muss imstande sein, zu sehen und zu sprechen. Auch das ist noch keine Garantie, dass dieses Problem nie entsteht – man muss damit arbeiten. 

Was von uns selbst müssen wir in den Weg der Transformation einbringen, damit wir ihn gehen können? 

Idealerweise alles! Die Yogachara-Schule spricht statt von Einsicht oder Weisheit von Umkehr oder Umdrehen im tiefsten Sitz des Bewusstseins. Was zeigt, wie radikal es ist. Sangharakshita liebte eine Zeile des US-amerikanischen Dichters Walt Whitman und zitierte sie häufig: „When I give, I give myself.“ Das gesamte Selbst ganz und gar hingeben. Traditionell bedeutete das im frühen Buddhismus auch das Hinausziehen in die Hauslosigkeit. In unserer Kultur vollziehen die wenigsten diesen Schritt, aber sie stellen andere Fragen, zum Beispiel: Was und wie arbeite ich? Tue ich das nur für Geld und Prestige, kann ich auch mit weniger auskommen? 

Wenn man sich in einem positiven Sinne infrage stellt, kann man merken, wie sehr das eigene Leben einzementiert war. Eine Freundin von mir besitzt viele Schuhe und fängt sich jetzt an zu fragen, ob sie so viele Schuhe eigentlich wirklich braucht. Warum sammelt die eine Person Schuhe, eine andere Bücher? Warum ist eine dritte so wählerisch mit ihrem Essen? Solche Fragen zu stellen mag trivial klingen, aber wenn man es ernst damit meint, rührt das an tiefe Teile der Persönlichkeit. 

ENDE DER LESEPROBE

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