Wahre Freiheit

Ein Beitrag von Jack Kornfield veröffentlicht in der Ausgabe 2018/2 Freiheit unter der Rubrik Freiheit.

Freiheit ist nicht am Ende einer langen, entbehrungsreichen Reise zu finden. Eine solche Vorstellung, so der bekannte Meditationslehrer Jack Kornfield, verschiebt die Freiheit in eine Zukunft, die vielleicht nie eintritt. In jedem Moment können wir unsere Erfahrung in liebendem Gewahrsein halten und aus diesem Raum handeln – mitfühlend und aus einer größeren Perspektive heraus.

Der Meditationslehrer Jack Kornfield | © Philippe Matsas, Opale Leemage ddp images

Die moralische Mathematik des Augenblicks

Freiheit ist immer da zu finden, wo Sie gerade sind. Ob Sie sich um ein Kind kümmern, Ihr Geschäft aufbauen, ein Spiel spielen oder einen kranken Menschen behandeln, es geschieht immer jetzt. Hetze und sorgenvolle Gedanken bringen uns nicht mehr Zeit ein. Wir haben nie wirklich etwas anderes als den gegenwärtigen Augenblick. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft noch nicht da. Lebenskunst besteht darin, dass wir in der ewigen Gegenwart sind, für alles aufgeschlossen. Ein einziger Augenblick kann den Bann der Zeit brechen: Wir treten aus unseren Gedanken heraus und sehen die Sonne im Fenster gespiegelt, schmecken das erstaunliche Wunder einer Mandarine oder eines Shrimps. 

So vieles hat in unserem heutigen Leben etwas Gehetztes. Wir sind in Eile, stehen im Stau, wissen nicht, wie wir es noch zum Besprechungstermin schaffen sollen, und dabei denken wir an die vor uns liegende Arbeit oder an Fehler, die uns gestern oder irgendwann unterlaufen sind. Aber Zeit entsteht erst durch unsere Gedanken, unsere Vorstellungen von Zeiten außerhalb dieses Jetzt-Augenblicks. Natürlich hat das Zeitbewusstsein auch seinen Wert, es erlaubt uns, wesentliche Dinge in Erinnerung zu behalten, zu organisieren, zu planen, zu lernen. Aber die meisten unserer in anderen Zeiten als dem Jetzt spielenden Gedanken verursachen einfach nur Stress und bange Anspannung. Zu viel Beschäftigung mit Vergangenheit und Zukunft geht auf Kosten der Lebendigkeit der unmittelbaren Gegenwart. 

Ich will Ihnen dazu von einem Experiment der Washington Post erzählen. Der weltberühmte Geiger Joshua Bell wurde gebeten, sich am 12. Januar 2007 im morgendlichen Stoßverkehr im Zwischengeschoss einer U-Bahn-Station der Hauptstadt Washington mit seiner Stradivari hinzustellen und Präludien von Bach zu spielen. Tausende Pendler hetzten vorbei, aber kaum jemand blieb stehen, um ein wenig zuzuhören. Und nur eine Person hat ihn erkannt. Die Washington Post nannte das „die moralische Mathematik des Augenblicks. Die Leute waren in Eile und hatten ganz andere Dinge im Sinn, und Bell hatte am Ende gerade einmal 32 Dollar im Geigenkasten – einen Bruchteil dessen, was eine Karte für sein Konzert am nächsten Abend kostete. Wie oft hetzen wir wohl gedankenversunken durchs Leben und übersehen neben dem Spektakulären auch noch die kleinen Wunder, die jeden Moment zu bestaunen sind? 

Sich gegen den Wind stemmen 

In dieser übervernetzten Gesellschaft heischen tausenderlei Dinge um unsere Aufmerksamkeit. Alle Tage haben wir zum Morgenkaffee die Weltnachrichten auf dem Smartphone. Wissenschaftler schätzen, dass in einer einzigen Ausgabe der New York Times mehr steht, als ein Mensch des 16. Jahrhunderts in seinem ganzen Leben zu hören bekam. Verständlich, dass es uns manchmal zu viel wird, auf allen Kanälen ständig E-Mails, Postings, SMS, Tweets und manches mehr zu versenden. 

Machen Sie Pause, atmen Sie durch. Wenn das Leben so brechend voll ist, kann der Hinweis, dass wir ja frei sind, ein wenig beunruhigend wirken. Lassen Sie es ruhig so sein. Aber tatsächlich steht es Ihnen frei, dankbar, mutig, ängstlich, bitterböse oder liebevoll zu sein. Und darüber hinaus steht es Ihnen frei, Ihren Job zu schmeißen, ein Geschäft zu eröffnen, zu heiraten, sich scheiden zu lassen, ein Kunstwerk zu schaffen, ein Kind in Pflege zu nehmen, Reisen ins Unbekannte zu unternehmen, Ihren E-Mail-Account zu löschen – mit allen Folgen, die das haben kann. 

Freiheit kann schwindelerregend sein. Zum Glück müssen Sie nicht alle Entscheidungen zugleich treffen – oder überhaupt. Aber die Freiheit zum Kurswechsel haben Sie immer. Ihr Leben ist an bestimmte Vorgaben gebunden und zugleich frei. Es gibt Grenzen, derenÜberschreitung Folgen hat – wer sich nicht an die Gesetze hält, kann im Gefängnis landen. Man fährt auf der vorgeschriebenen Straßenseite oder riskiert Unfälle, die tödlich ausgehen können. In dieser beunruhigenden Grenzenlosigkeit der Freiheit fahren Sie am besten, wenn Sie das Denken leiser stellen und mehr auf Ihr Herz hören. Ihr Herz stellt liebevolle und wohlerwogene Ratschläge bereit, die aus tiefem, aufrichtigem Verstehen kommen und deshalb zu den besten Entscheidungen führen. 

Elija war seit seinem dreizehnten Lebensjahr immer wieder für kürzere oder längere Zeitabschnitte inhaftiert gewesen. Hier erzählt er, was für Schwierigkeiten das mit sich brachte: 

Als ich auf Bewährung entlassen wurde, war ich einundzwanzig. Einmal stand ich an der Ampel. Sie wurde grün und dann wieder rot. Ich blieb einfach stehen. Bis mir aufging, dass ich darauf wartete, von jemandem gesagt zu bekommen, wann ich gehen konnte. Die Jahre hinter Gittern hatten mich meine eigene Entschlusskraft gekostet. Deshalb fing ich mit Achtsamkeit an, ich musste unbedingt meine Freiheit wiederhaben. 

Jeder kann seine Freiheit zurückbekommen. Besinnen Sie sich auf das Wesentliche, schalten Sie Ihre Vernetzungsapparaturen aus und Mozart an. Entrümpeln Sie Ihren Terminplan, machen Sie Spaziergänge in der Natur, planen Sie weniger Termine und Aktivitäten. Richten Sie sich nach Ihren eigenen Vorstellungen ein einfacheres Leben ein. Ihr Gefühl, dass Ihnen alles zu viel ist, wird durch Sorgen und Vorstellungen noch verschlimmert. Das Gefühl, ein separiertes Ich zu sein, macht Angst, doch wir sind alle in das Gewebe des Lebens eingebunden und müssen uns nicht von solchen Gefühlen beherrschen lassen. Letzten Endes sind Sie reines Bewusstsein. 

Der Zen-Meister Philip Kapleau wusste seine Schüler wirksam zu beruhigen, wenn es während einer Meditationsklausur zur Auflösung der Grenzen kam. Er sagte: „Sie können nicht aus dem Universum herausfallen.“

Der Geiger Joshua Bell | © Julián Arango, CC

Loslassen, der Schlussakkord

Ajahn Chah lehrte: „Wenn du ein bisschen loslässt, hast du ein bisschen Frieden. Wenn du viel loslässt, hast du eine Menge Frieden. Wenn du ganz loslässt, bist du wahrhaft frei.“ Das Loslassen ist alles entscheidend, aber der Begriff kann auch ein wenig missverständlich sein. Man könnte sich aufgefordert fühlen, die Vergangenheit wegzuschieben, aber so ist es nicht gemeint. Darin würden Widerstand und Ablehnung stecken, und die binden uns gerade an das, was wir loswerden wollen. Vielleicht drückt „sein lassen„ das Lösende und Befreiende besser aus, das hier gemeint ist. Wenn wir etwas in uns gelöst und gelassen haben, erzeugt das ein ganz bestimmtes, unmissverständliches Gefühl – wie der Schlussakkord, in dem sich ein Musikstück vollendet. 

Wer diese Tiefe der Lösung erreichen möchte, muss sich dem ganzen Ausmaß seiner Schwierigkeiten mit freundlicher Achtsamkeit zuwenden. Sie freunden sich mit Ihrer Vergangenheit an und betrachten sie mitfühlend, und so verliert sie nach und nach ihre Kraft. Im Lauf der Zeit werden die Leiden der Kindheit sowie die Kämpfe und traumatischen Erlebnisse der Vergangenheit ein wenig milder und wirken nicht mehr so vergiftend – man kann mit ihnen leben. Sie verschweigen Ihre körperlichen und seelischen Narben nicht, identifizieren sich aber weniger mit ihnen. Sie richten Ihr Augenmerk immer mehr auf Ihr Wohlbefinden. Da kann es so sein, dass Ihnen das Problem zwar bewusst ist, aber Sie Ihr Herz nicht mehr davon vereinnahmen lassen. 

Der Zen-Lehrer Ed Brown kleidet das in eine Gatha, ein Achtsamkeitsgedicht: 

Beim Händewaschen reinige ich meinen Geist vom immer gleichen alten Denken, bereit, mit anzupacken bei jeder neuen Aufgabe. 

Weitergehen heißt, dass wir von zwanghaft mit der Vergangenheit beschäftigten Gedanken lassen, von Verrat, Streit und Enttäuschung. Wir verzeihen uns und anderen und lassen Vergangenes vorbei sein. Dann folgen wir weiter dem Strom unseres Lebens, um das Geschehene wissend, aber nicht mehr davon gebannt. 

Die Freiheit, zu handeln 

Das Wissen um unsere Handlungsfreiheit kann uns von Hemmungen befreien, nicht aber von den Folgen unseres Handelns. Wer Gesetze bricht, hat mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Wenn Sie einen anderen hintergehen, ist die Beziehung womöglich ruiniert und nicht mehr zu kitten. Das ändert jedoch nichts an Ihrer Freiheit, zu handeln, zu experimentieren, zu lernen, Fehler zu machen, sich Ausdruck zu geben oder zu verstecken und wieder von vorn anzufangen. 

Manchmal glauben wir nicht so recht an unsere Handlungsfreiheit. Wir fühlen uns gestresst oder entmutigt, wir trauen uns nicht, die Nerven spielen nicht mit oder wir fühlen uns wie gelähmt. Vielleicht erscheinen uns auch die äußeren Verhältnisse überwältigend, diese Welt mit ihren nie enden wollenden Konflikten, ihrer Armut, ihrem Unrecht. Die Politiker und Medien füttern unsereÄngste –Ängste bestimmen Wahlausgänge, und die Sensationspresse verdient gut damit. Fallen Sie nicht darauf herein! Die Probleme – Klimawandel, Krieg, Rassismus, Ausbeutung – gibt es wirklich, keine Frage, aber wenn Sie sich nur noch Sorgen machen, wächst Ihnen das alles erst recht über den Kopf. Fest steht jedoch, dass Sie jetzt hier sind und Ihren Beitrag leisten können. Der Historiker und Geistliche Edward Everett Hale sah das so: „Ich bin nur einer, aber der bin ich. Ich kann nicht für alles sorgen, aber für etwas eben doch. Was ich nicht kann, hält mich nicht davon ab, zu tun, was ich kann.“ Das ist auch Ihre Freiheit: etwas für diese Welt zu tun, jeden Tag, jeden Augenblick. 

Standhalten in der Verunsicherung 

Alle paar Jahre oder Jahrzehnte wird diese moderne Welt von Umbrüchen und gewaltigen Turbulenzen erschüttert – Attentate, Kriege, politische Wirren, Wirtschafts- und Umweltkrisen. Oft schüren die Politiker unsereÄngste noch, als wäre es vernünftig, uns zu fürchten. Sicher ist es ganz natürlich, sich zu ärgern oder Bedenken zu haben. In unsicheren Zeiten ängstigen wir uns um unsere Zukunft und die Zukunft unserer Mitmenschen. Es könnte ja sein, dass soziale Ungleichheit, Rassismus, Umweltzerstörung, Homophobie, Sexismus und andere Übel immer weiter zunehmen. Aber solche Bedrohungen sind zugleich auch das, woran wir wachsen können. Ralph Waldo Emerson sagte, nur in der Verunsicherung liege die Hoffnung für die Menschheit. 

Freiheit in schwierigen Zeiten kann allein von uns selbst ausgehen. Wie gehen wir mit uns selbst um? Wenn das limbische System unseres Gehirns auf Flucht, Abwehr und Erstarrung schaltet, sind wir mehr oder weniger ausschließlich vonÜberlebensängsten besetzt. Die stammesgeschichtlich ältesten Teile des Gehirns übernehmen das Kommando. Unser Denken wird von Wogen der Angst über Bevorstehendes überspült. In schwierigen Zeiten schwappen solche Angstwellen gern zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen hin und her. Wir fragen uns, ob alles immer schlimmer wird oder die Dinge nur endlich ans Licht kommen. Und was können wir tun? 

Halten Sie inne, lauschen Sie auf Ihr Herz, denn hier haben Liebe, Weisheit und Mitgefühl ihren Sitz. Erspüren Sie liebevoll, was Ihnen am wichtigsten ist. Sicher gibt es bange Gedanken, Kummer und Traumata, aber lassen Sie sich davon nicht besetzen. Lassen Sie Ruhe einkehren, wenden Sie sich Ihrem Herzen zu. Heben Sie draußen den Blick zum Himmel. Atmen Sie ein, offen für die Weite des Raums. Spüren Sie dem Wechsel der Jahreszeiten nach, dem Aufstieg und Fall von Dynastien und Epochen. Überlassen Sie sich beim Ausatmen dem liebenden Bewusstsein. Üben Sie Gelassenheit und Standfestigkeit. Lernen Sie von den Bäumen. Werden Sie der ruhende Pol des Ganzen. 

Unsere Beständigkeit kann, wie Thich Nhat Hanh sagte, ein Ort der Geborgenheit für andere sein. „Wenn in vietnamesischen Flüchtlingsbooten bei Sturm oder bei der Begegnung mit Piraten alle in Panik gerieten, war alles verloren. Aber wenn nur ein einziger Ruhe und Umsicht bewahrte, war das genug. Alle konnten sich daran orientieren und überleben.“

Vor zweitausend Jahren sagte Rabbi Tarfon: „Lasst euch nicht von der Unermesslichkeit des Kummers in der Welt entmutigen. Lebt ein gerechtes Leben, liebt die Barmherzigkeit und geht demütig eurer Wege. Es ist euch nicht aufgetragen, das Werk zu vollenden, aber ihr dürft es auch nicht preisgeben.„ Clarissa Pin- kola EstŽs führte das noch ein wenig weiter aus: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Welt ein für alle Mal in Ordnung zu bringen, aber wir haben uns für das einzusetzen, was in unserer Reichweite liegt.„ Schnüren wir also unsere Schuhe, um in Richtung Wahrheit zu gehen. 

Äußere und innere Freiheit 

Wir sind eins mit dem Mysterium des Lebens und leben zugleich unsere einzigartige Inkarnation. Mit einem Fuß stehen wir in der Zeitlosigkeit, mit dem anderen in diesem Dasein als Individuum. Beide Sphären bieten die Möglichkeit der Freiheit. 

Äußere Freiheit erlaubt dem Einzelnen, so zu leben, wie er möchte, und sein Glück so zu suchen, wie er es für angebracht hält. Wie gesagt: Diese äußeren Freiheiten sind kostbar – was für ein Segen, dass wir Rede-, Religions- und Versammlungsfreiheit haben und uns frei bewegen können. Wir können unsere Lebensform selbst wählen und dürfen damit rechnen, dass unsere Menschenwürde grundsätzlich geachtet wird. Es ist ein menschliches Grundrecht, nicht Unterdrückung, Unrecht und Sklaverei ausgesetzt zu sein und nicht bittere Armut und Hunger fürchten zu müssen.

Möglicherweise genießen Sie alle diese Freiheiten, aber unzählige Menschen auf der ganzen Welt müssen ohne sie leben. Sie sehen sich politischer Unterdrückung oder ethnischer Verfolgung ausgesetzt und leiden endlos unter Krankheit und Hunger. Freiheit setzt für sie bei der Situation an, in der sie sich befinden. Gandhi sagte: „Freiheit beginnt für die Hungernden mit Brot.“ Für manche wäre es der Gipfel der Freiheit, wenn sie zu essen bekämen, bescheidene Chancen hätten, wenn ihre Menschenrechte gewahrt wären, wenn sie ohne Krieg und Rassismus leben könnten. 

Wie gut, dass Sie Ihre Freiheit so nutzen können, dass andere auch etwas davon haben! Verbinden Sie Ihre Freiheit mit der Freiheit anderer. Mit Ihrer eigenen zunehmenden Freiheit können Sie dem Wohlergehen aller dienen, ganz im Sinne Martin Luther Kings: „Wir sind erst frei, wenn alle frei sind.“ Jeder Einzelne, dem sich Freiheit und die Verbundenheit aller mit allen erschließt, kann sehr viel bewirken. 

Ich selbst genieße das Privileg so gut wie aller äußeren Freiheiten der Welt. Meine Kindheit war wegen meines zur Gewalttätigkeit neigenden Vaters nicht ungetrübt, aber ich war in meinem wohlhabenden Elternhaus mit allem versorgt und lebte in einem reichen Land, das mir Chancen, Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem bot. Das gab mir die Möglichkeit, im Kloster Frieden zu suchen, aber es schärfte auch mein Bewusstsein für die Lage anderer. Der Kampf um äußere und das Streben nach innerer Freiheit gehören wohl von Natur aus zusammen. Ich habe mich für eine Reform des Gefängniswesens, für Frieden in Burma, für soziale Gerechtigkeit und die Umwelt, für Freiheit in Palästina, Tibet und anderswo einsetzen können. 

1975, Boat People. Wenn nur ein Mensch die Ruhe bewahrte, wurde die Überfahrt sicherer. | © manhai

Mein Freund Maha Ghosananda, der Gandhi Kambodschas, wie er genannt wird, hat gezeigt, dass so etwas auch in unserer Zeit möglich ist. In ihrer blinden Zerstörungswut hatten die Roten Khmer Tempel niedergebrannt und Millionen Menschen ermordet, auch und gerade Gebildete. Darunter waren neunzehn Mitglieder von Maha Ghosanandas Familie. Als einer der wenigen überlebenden höheren Mönche leitete Ghosananda den Bau von Tempeln in den Flücht- lingslagern jenseits der Grenze. Als die kriegerischen Auseinandersetzungen abklangen und die Menschen allmählich in ihre Heimat zurückkehren konnten, sagte Ghosananda den Leuten, sie könnten jetzt nicht einfach mit Bussen oder Lastwagen nach Hause fahren, dazu sei zu viel Schreckliches passiert. Sie sollten zu Fuß gehen und er werde sie begleiten. Unterwegs wurden ununterbrochen Gebete der Herzensgüte rezitiert, damit die Menschen Schritt für Schritt ihre Heimaterde, ihr Herz und ihr Land für sich zurückgewinnen konnten. 

Jahr für Jahr leitete er solche Trecks von Flüchtlingen zurück in ihre Heimat, stets von Glockenklang und Gesängen des Mitgefühls begleitet, und dabei kam es immer wieder vor, dass Frauen aus ihren Verstecken im Wald auftauchten und kriegsmüde Soldaten beider Seiten Ghosananda ihre Waffen weinend zu Füßen legten. 

Dieser für den Friedensnobelpreis nominierte, in fünfzehn Sprachen bewanderte Gelehrte, der dreißig Tempel gegründet hat und im Friedenssicherungsprogramm der Vereinten Nationen hohes Ansehen genoss, lebte die meiste Zeit im Dschungel, wo er die Menschen anleitete und die bereits zitierte einfache Wahrheit lebte, lehrte und sang: „Hass wird nicht durch Hass beendet, nur die Liebe kann ihn heilen.„ So zeigte er den Menschen, dass das menschliche Herz unter allen Umständen frei sein kann. Wir sind zweifellos verletzlich, aber welcher Art unsere Kämpfe auch sein mögen, unser Geist kann sich immer zu Mitgefühl und Fürsorglichkeit aufschwingen.

Auszüge aus: Jack Kornfield, Wahre Freiheit – Der buddhistische Weg, in jedem Augenblick glücklich und geborgen zu sein, O.W. Barth Verlag 2018 

Jack Kornfield

Jack Kornfi eld ist einer der bekanntesten Lehrer des Theravada-Buddhismus im Westen. Er ging 1967 nach Thailand und wurde dort Mönch in der Waldtradition bei Ajahn Chah. 1975 begründete er gemeinsam mit Joseph Goldstein und Sharon Salzberg die Insight Meditation Society in Massachusetts und später das Spirit Rock Center in Kalifornien. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

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