Tenzin Peljor: Mir erscheint wichtig, die Wut erst einmal als eine normale, menschliche Reaktionsweise anzunehmen. Ansonsten besteht die Gefahr, „Wut über Wut“ zu entwickeln, also wütend (oder unglücklich) zu werden, weil man wütend geworden ist. Gerät man über die eigene Wut in Wut, fügt man der Wut eine weitere schmerzhafte Reaktion hinzu und erfährt damit noch mehr geistiges Unglück.
Entsteht eine konflikterzeugende Emotion wie Wut, übernimmt sie schnell die Kontrolle. Sie wird die Chefin; wir werden zu Sklaven dieser Emotion und folgen ihr zwanghaft. So sind wir unfrei. Wenn die Wut die Kontrolle übernommen hat, ist das, als wäre man in einen reißenden Fluss gefallen und würde von der Strömung davongetragen. Die Wut trägt uns fort, versperrt den klaren Blick, führt zu Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit und verleitet uns zu allerlei unweisen Handlungen. Wenn man in einen reißenden Fluss gefallen ist, muss man als Erstes versuchen, wieder aus ihm herauszukommen.
Aus dem reißenden Fluss einer konflikterzeugenden Emotion wie Wut zu gelangen erreicht man durch die Praxis der Selbstbeobachtung (Sanskrit: samprajanya): Nimm die Emotion, die Wut, bewusst wahr, sieh hin! Das bewusste Wahrnehmen und die nachfolgende friedliche Annahme der Wut stehen meines Erachtens ganz am Anfang. Dazu muss man innerlich einen Schritt zurücktreten und offen und interessiert beobachten, was gerade passiert.Ähnlich einem Spion, der einen Vorgang interessiert und doch leidenschaftslos beobachtet, oder einer Wissenschaftlerin, die ein Objekt neugierig, aber relativ leidenschaftslos unter dem Mikroskop betrachtet, so beobachten wir die Wut: „So ist es!„, „Ja, ich bin wütend!„, „Uhh, ich könnte gerade vor Wut platzen!„, „Hammer!“
Wie eine Welle aus dem Wasser aufsteigt, einen Höhepunkt hat und wieder zurückfällt, so taucht die Wut, ihrer Natur nach immateriell, formlos, farblos, geruchlos, aus dem Bewusstsein auf, steigert sich, geht durch den Körper, macht etwas mit dem Körper – das wir beobachten können –, hat einen Höhepunkt und fällt dann wieder in sich zusammen.