Narbengewänder, Lichtrisse, Goldkitt: Mit schweren Erfahrungen gut leben im Alter

Ein Beitrag von Kathleen Battke veröffentlicht in der Ausgabe 2016/4 gut leben unter der Rubrik gut leben.

Wenn wir abschiedlich leben lernen, im Wissen um unsere Sterblichkeit und uns mit dem eigenen Leid anfreunden, können wir, so Kathleen Battke, nicht nur trotz, sondern aufgrund schwerer Erfahrungen auch im Alter ein gutes, tiefes Leben leben.

© tora, photocase.de

In der zweiten Hälfte unseres Lebens, wenn wir uns (hoffentlich) in der freien Wildbahn der gesellschaftlichen Konvention nicht mehr so mühevoll beweisen müssen wie früher, öffnet sich die Tür zur Generativität, zur fruchtbaren Weitergabe eigener Lebenserfahrung. Wir lösen uns zunehmend von der Materie (auch wenn die Tatsache, dass unser Körper und seine – schwindenden – Funktionen zunehmend in den Fokus rücken, dem zuweilen zu widersprechen scheint). Damit besteht auch die Chance, dass in den scharfen Grenzen, die unser Ich vom Fluss des Lebendigen trennen, mehr Schlupflöcher entstehen. Der organische Alterungsprozess bietet uns an, mit weniger Ego zu leben.

Gut leben = abschiedlich leben

Gutes Leben ist gut, wenn ich gut sterben kann. Das heißt, wenn mir auch bei einer plötzlichen Begegnung mit dem Tod bewusst werden kann: Ja, es war gut; ich kann loslassen. Gut sterben kann ich (vielleicht; hoffentlich), wenn ich gut gelebt habe. Wenn ich mein Menschsein so weit entfaltet habe, wie es mir unter den Umständen meines Daseins möglich erschien. Und wenn ich mir mit den Jahren die Zeit nehme, die Schutzverbände des Überlebens von meinen Wunden abzunehmen, den Gips und die eisernen Schienen abzulegen, die Narben zu betrachten und mich mit ihnen anzufreunden. Die Schwere von Erfahrungen in das Gasthaus meines Daseins einzuladen, sie mit Fürsorge zu besänftigen, manchmal auch als lästigen Weggefährten einfach neben mir zu dulden. Das ist nicht romantisch gedacht. Es ist pure Altersvorsorge: Zorn und Schmerz, Verdrängung und Opferbewusstsein zerfressen uns mit den Jahren. Kosten Energie, schneiden Verbundenheit ab. Wenn ich also abschiedlich zu leben versuche – vom Ende her, aus der Vergänglichkeit heraus –, gelingt es mir (immer wieder einmal), gute Richtungsentscheidungen für meine nächsten Lebensschritte zu treffen. Auch so wäre spirituelle Praxis zu verstehen: das Wissen um meine Sterblichkeit zur Schulung meiner Unter- und Entscheidungskraft zu nutzen.

Zwei Kernressourcen für eine gute zweite Lebenshälfte

Resilienz, also seelische Widerstandskraft und (Über-)Lebenskunst, hat zwei wenig überraschende Fundamente: Autonomie und Urvertrauen. Auch wenn dies natürlich für alle Lebensalter gilt und sich insbesondere in den frühen Jahren die Grundlagen für beide Haltungen formen, wird die Tragfähigkeit dieser Fundamente mit fortschreitendem Alter neu geprüft. Wer praktiziert, versucht diese psychologischen Kategorien, wie ich sie im Folgenden kurz umreiße, mit den Augen der Nichtdualität in der Tiefe anzuschauen:

a) Autonomie – Selbstverantwortung

Unabhängigkeit, die Kraft des eigenen Stehens im Leben und Selbstbestimmung sind meist die ersten Assoziationen zum strapazierten Energiefeld „Autonomie“. Sofern wir im Älterwerden einigermaßen frei von Not leben können (was nicht unbedingt eine große Rente oder umfangreiche Einkünfte meint, eher, dass die Grundbedürfnisse gedeckt sind, ohne dass täglich um sie gerungen werden müsste), haben wir die Chance, uns zunehmend aus Anpassungszwängen zu befreien. Wir können Konventionen aufgeben und immer echter werden. Indem wir peu à peu die Fassadenfarbe von unserer Persönlichkeit abwaschen, kommt das (flüssige) Urmaterial, das uns ausmacht, zum Vorschein. Wir können zunehmend unangepasst einfach sein, im Moment verweilen, „schrullig“ vielleicht, jedenfalls eigen und wahr. Wir gewinnen Autonomie zurück. Die mühevolle Seite der Autonomie ist die Selbstverantwortung. Wie gern beharren wir auf Eigenständigkeit, wünschen uns aber als Praktizierende gleichzeitig (mehr oder weniger bewusst), die Verantwortung für unser Dasein abgeben zu können, zum Beispiel an einen Lehrer/eine Lehrerin, eine Gemeinschaft, Institutionen. Hier wird Autonomie zu einer Anforderung des Lebens an uns: Verantwortung übernehmen, das eigene Leben bezeugen, Urteilskraft bilden, entscheidungsfähig werden. Ich habe die Freiheit, mich mir selbst zuzuwenden – freundlich und furchtlos. Reflexionsbereitschaft, Selbsterforschung in Körper, Geist und Herz sind Aspekte von Autonomie, die die Verantwortung betonen, welche wir ergreifen können, um ganz und gut auf ein bewusstes Ende hin zu leben. Aus dieser Zuwendung erwächst Selbstbefreundung, Selbstmitgefühl, Milde gegenüber den eigenen Unzulänglichkeiten. Metta-Praxis für mich.

b) Urvertrauen – Allverbundenheit

Soziale Verbundenheit wird abseits von traditionellen Familienstrukturen mit zunehmendem Alter zum Thema. Wie wohnen? Wo leben? Verwundete Seelen erkennen sich und können sich oft nur unter ihresgleichen öffnen, weshalb nicht jedes gemeinschaftliche Wohnprojekt, jede Sangha-WG schon glücklich macht. Die Gefahr der Wiederholung unguter Lebensmuster, die aus nicht integrierter schmerzlicher oder gar Traumaerfahrung erwachsen sind, ist hoch – und die Hoffnung, dass Beziehung in spirituellen Gruppen und Gemeinschaften automatisch eher gelingt, trügt nicht selten. Viel Verletzung entsteht gerade hier; alte alte Wunden entzünden sich immer wieder neu. Urvertrauen als Allverbundenheit hilft, mitmenschlichen Schmerz auszuhalten und zu überwinden. Wenn ich vielleicht auch Einzelnen nicht vergeben kann, so doch dem Leben, wie es für mich geworden ist. Urvertrauen trägt also auch über soziale Kontakte hinaus. Es lässt sich wiedergewinnen, stärken, einüben – zum Beispiel durch Mitgefühl förderndes Engagement, Metta-Meditation, bewusste Dankbarkeit, die Praxis des Zeugnisablegens (wie sie zum Beispiel die ZenPeacemaker üben und anbieten).

Fragen der Allverbundenheit können so klingen:
• Schaffe ich es, mein Herz zu öffnen und immer ein kleines
bisschen länger offen zu halten?
• Bin ich in der Lage, meine Gefühle flüssig zu halten, Verfestigungen wahrzunehmen und immer wieder aufzulösen?
• Kann ich mich mit der Ambivalenz, Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit des Daseins anfreunden und so das Vertrauen in den Fluss des Lebendigen halten, vertiefen?
• Kann ich immer öfter radikal freundlich sein – mir selbst, anderen und dem Leben gegenüber?
„Liebe – und tu, was du willst!“ In diesem knappen (Augustinus zugeschriebenen) Imperativ fließen allverbundenes Urvertrauen und selbstverantwortliche Autonomie zusammen.

Der Riss, der Bruch, die Wunde – durch sie fällt das Licht. Die Unbegreiflichkeiten unseres Lebens sind es, die, sofern wir ihnen erlauben, da zu sein, unserem Leben in späten Jahren Tiefe geben. Sie können es nicht nur gut, sondern auch ganz machen. Sie können uns Einsicht schenken in die Inkonsistenz, Unkontrollierbarkeit, Leerheit des Daseins. Und sie können uns die Hingabe an jeden neuen Moment und den Abschied aus diesem Leben erleichtern.

Schöne Künste zum Sichbefreunden mit dem Schmerz

Wer die Befreundung mit dem eigenen Lebensleid auch „handgreiflich“ praktizieren möchte, dem seien drei Künste ans Herz gelegt.

Schreiben

Wer Sprache liebt als das menschliche Medium, Verbundenheit herzustellen, kann deren kreative Fülle nutzen, um sich mit dem eigenen Lebenspanoptikum anzufreunden. Das Kunsthandwerk des biografischen Schreibens hält unerschöpfliche Ausdrucksmöglichkeiten bereit – vom einzelnen Wort für die Absolutheit einer Erfahrung über Wortbilder und literarische Formen (wie Haiku, die japanischen Kurzgedichte, als Gefäß für Essenzen und die Flüchtigkeit des Daseins) bis hin zur sinnstiftenden Lebenserzählung. Die spielerischen Potenziale unterstützen ebenso wie die Bedeutung schaffende, kulturtragende Kraft unserer Sprache einen Prozess der bewussten Aneignung und Reflexion von Lebenserfahrungen.

Das Narbengewand

Erlittenes Leid kann wie ein Mangel im Lebenspatchwork erscheinen. Wie wird es vom Materialfehler zu dem Geweberiss, durch den das Licht fällt? Die Konsistenz, die Sinnhaftigkeit des Lebensgewebes wärmt uns; die gerissenen Fäden, die Löcher, die einfach nicht mehr rauszukriegenden Flecken machen es zu einem einzigartigen Kunstwerk. In ihrem Buch „Die Wolfsfrau“ empfiehlt Clarissa Pinkola Estés, jede einzelne Wunde und jede Narbe, die das Leben uns zugefügt hat, in ein Narbengewand einzuweben und dieses mit Stolz zu tragen. Das Rakusu, ein rechteckiges Textil, das an einem Band um den Nacken getragen wird, im Zen hat zwar ursprünglich einen anderen Fokus, symbolisiert aber vielleicht doch in ähnlicher Weise die Fetzenhaftigkeit unseres Seins.

Kintsugi

Schwere Erfahrungen lassen etwas in uns zerbrechen. Unser bisheriges Leben liegt in Scherben. Was anfangen mit dem Splitterhaufen? Kintsugi, die Zen-Kultur des Flickens von Brüchen – vor allem bei Geschirr, Porzellan – mit Goldkleber versucht gar nicht erst, die Bruchstellen möglichst unsichtbar zu machen. Sie lenkt im Gegenteil bewusst den Blick auf den Riss, das Kaputte. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert in Japan praktiziert, hebt Kintsugi den Makel hervor und eröffnet die Chance, dass ein Gefäß, auf diese wertschätzende Weise ge ickt, schöner und kostbarer wirkt als vor seinem Zerbrechen. Wenn ich an diese Kunst der Wertschätzung des Bruchs denke, sehe ich Gesichter vor mir, aus denen integrierter Schmerz, anerkanntes Leid und vergehende Zeit eine Landschaft mit goldenen Wegenetzen geschaffen haben. Unser Leben – ein goldgesticktes, löchriges und windschiefes Gefäß, das noch genug Platz hat für ein humorvolles Alter in Autonomie und Allverbundenheit und für einverstandenes Loslassen im letzten Atemzug.

Lesetipps:

Kathleen Battke

Kathleen Battke, geb. 1959, Sprach- und Kulturwissenschaftlerin, Kommunikationsberaterin, Publizistin und Biografin in Bonn. Ihre Mutter erlebte den Zweiten Weltkrieg als Kind in Niederschlesien. Seit 2007 Seminare zur versöhnenden Erinnerungsarbeit und Workshops für kreatives biografisches Schreiben mit Kriegskindern und -enkeln.

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