Die Hauslosigkeit im Herzen

Ein Interview mit Ayya Tisarani geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2022/3 Heimat unter der Rubrik Heimat.

Nach der Geburt seines Sohnes verließ der Buddha Frau und Kind und ging in die Hauslosigkeit. Als Gang in die Hauslosigkeit verstehen auch Nonnen und Mönche ihre Ordination. Ein Gespräch mit der Ehrwürdigen Ayya Tisarani, buddhistische Nonne in der Theravada-Tradition.

BUDDHISMUS aktuell: Vielleicht kannst du dich eingangs einmal vorstellen – wer bist du? 

Ayya Tisarani: Wer ich bin, das weiß ich nicht (lacht). Geboren bin ich in Polen und lebe seit über dreißig Jahren in Deutschland. In den 1980er-Jahren war Polen überwiegend katholisch und an gute Bücher war schwer heranzukommen. Trotzdem stieß mein damaliger Ehemann auf ein Buch über Meditation und wir waren beide davon fasziniert. Mit der Buddhalehre bin ich 1996 zunächst über die tibetische Tradition in Kontakt gekommen, habe Zuflucht genommen, aber anfangs eigentlich nicht viel verstanden. Gleichzeitig gab es in mir eine starke Suche nach Erläuterungen und Erklärungen. 

Suchen bedeutet ja auch, einen vermeintlich sicheren Hafen zu verlassen und sich auf eine ungewisse Reise zu machen.

Ja, es war eine Reise. Je intensiver ich mich mit dem Leiden beschäftigte, umso intensiver befasste ich mich auch mit der Buddhalehre. 2003 besuchte ich die Pagode in Hannover und nahm dort an Dhamma-Unterweisungen teil. Das war für mich ein großer Schritt nach vorn, und ich begann zu ahnen, wohin diese Reise wohl ging. Ich blieb einige Tage in dem Kloster und traf dort auf einen Mönch, der mich sehr beeindruckt hat. Es schien mir, als würde er aus jeder Zelle leuchten. Um von ihm lernen zu können, machte ich ihn einfach nach. Wenn er saß, saß ich auch. Wenn er Gehmeditation machte – etwas, das mir völlig neu war –, ging ich hinter ihm her, die Hände auf dem Rücken, so wie er es tat. Was immer er machte, ich machte es auch. 

Zurück zu Hause fiel es mir schwer, mich wieder in das normale Alltags- und Berufsleben einzufinden. Die nächsten fünf Jahre meditierte ich viel und erfüllte meine weltlichen Pflichten. Wir hatten in etwas abgeschiedener Lage einen großen Naturgarten, in dem ich viel Zeit verbrachte. Ich spürte eine starke Kreativität, malte viel, und gleichzeitig gab es in mir diesen reflektierenden, suchenden Geist: Was ist das Leben? Woher kommt all das Leid, das einem Mensch widerfährt? Eines Tages bin ich aus dem Garten nicht mehr nach Hause, sondern einfach dortgeblieben, um zu praktizieren, viele Monate lang. Meine Eltern sorgten sich, aber mein Mann und eine Freundin verstanden glücklicherweise, worum es ging, und versorgten mich mit Nahrung. 

Danach gab es kein Zurück mehr. Es war mir klar, dass ich die Robe nehmen und ordinieren wollte, auch wenn es noch viele Jahre dauern sollte, bis ich das realisieren konnte. 2019 wurde ich Samaneri und 2021, also erst vor Kurzem, bin ich voll ordinierte Bhikkhuni geworden. Ich empfinde eine ganz große Dankbarkeit für alle, die mich auf diesem Weg unterstützt haben.

Wie würdest du die Bedeutung der Hauslosigkeit beschreiben?

Diese Frage möchte ich vom Herzen und meiner persönlichen Erfahrung her beantworten. Wir Menschen suchen unser Zuhause oft im Materiellen. Eine schöne Wohnung. Die Sicherheit eines gut gefüllten Bankkontos. Ich bin in meinem Leben viele Male umgezogen. Immer habe ich gedacht: Wenn ich dorthin gehe, wenn ich an jenem anderen Ort lebe, dann werde ich endlich haben, was ich brauche. Aber nach kürzerer oder längerer Zeit war die Unzufriedenheit wieder da. Ich habe ja sogar das Land, in dem ich geboren bin, verlassen! Aber auch hier in Deutschland bin ich immer wieder umgezogen und dem Glück hinterhergerannt, wie ein Esel einer Karotte, die ihm vor die Nase gehängt wird und die er niemals erreichen kann. Selbst wenn ich vorübergehend ein Glück empfand, angekommen zu sein, bekam ich doch sofort Angst, es könnte auch wieder verloren gehen. Ich spürte, wie fragil die Zufriedenheit ist, die sich auf etwas Materielles gründet, und das machte meine Suche nach einem Ankommen ohne Angst noch stärker und intensiver. Irgendwann, irgendwo musste es doch möglich sein – es konnte doch nicht sein, dass dieser unerträgliche Zustand der Unruhe für immer andauern sollte. Das wäre ja so, als hätte man ständig Durst. Wie stillt man diesen Durst? 

Was geschieht, wenn der Geist ankommt?

Es sind viele Schritte im Geist zu tun, bis er erkennt und nachhause kommt. Auf einer Ebene kann man sagen: Zuhause ist da, wo wir jetzt sind. Wenn keine Ablehnung da ist, keine Bewertung, wenn der Geist die Situation so akzeptiert, wie sie jetzt in diesem Moment ist, dann ist dieser Moment auch unser Zuhause. Dieses Zuhause findet man im eigenen Herzen. Es im Außen zu finden, ist nicht nur sehr schwer, es ist unmöglich. Auch wenn wir wunderschöne Häuser haben, wenn wir uns alles rundherum so einrichten, dass es unseren Idealvorstellungen entspricht, wird ein wirklicher Frieden, eine wirkliche Zufriedenheit nicht kommen. Weil man unbewusst weiß, dass das vergänglich ist. Spätestens mit dem Todesmoment muss man alles verlassen und kann nichts mitnehmen.

Dieses Ankommen im eigenen Herzen und bei sich selbst ist der Beginn der Hauslosigkeit. Wir können auch von Wunschlosigkeit oder Selbstlosigkeit sprechen. Es gibt verschiedene Begriffe, um es zu umschreiben. In den Sutten benutzt der Buddha auch das Gleichnis vom stillen Teich im Wald. 

Hauslosigkeit bedeutet nicht, dass wir das Leben loslassen sollten! Sondern wir kommen im Leben an, und unsere Entscheidungen entsprechen nun dem Leben. Der Punkt ist, dass man am Leben selbst nicht anhaftet, nicht an Materiellem und nicht an Geistigem.

Ordinierte besitzen sehr viel weniger als die meisten anderen Menschen. Welche Rolle spielt die Besitzlosigkeit in dem Prozess, den du beschreibst?

Wenn man sich auf diesen Weg macht, erkennt man: Die Dinge machen nicht glücklich. Je mehr man davon hat, desto mehr muss man sich auch um sie kümmern. Aber auch der Verzicht findet nicht im Außen statt, sondern er passiert im Herzen. Manche denken, man müsse als Nonne oder Mönch alles weggeben. Aber wir sind nicht obdachlos, auch ich lebe in einem Haus, hinter mir siehst du einige Bücher und Bilder. In Europa ist es im Winter kalt, ich kann nicht in einem Zelt leben, und selbst ein Zelt wäre ja etwas, das ich brauche, um mich vor Wind und Wetter zu schützen. An den Dingen nicht festhalten – das ist der rechte Verzicht. Und der ist eine Sache des Herzens. 

Ich habe gemerkt, dass ich manchmal Inspiration brauche, denn es gibt Tage, da ist es auch für mich schwer. Deshalb habe ich hier einige Bilder aufgehängt, zum Beispiel von den Frauen, die diesen Weg vor uns gegangen sind. Einige von ihnen sind voll ordiniert, andere haben ohne Ordination so praktiziert, dass sie das erlangt haben, was wir die volle Befreiung nennen. Sie sind für mich wichtige Vorbilder. Am Anfang hatte ich hier nur nackte Wände und keinen Altar. Dann kamen ein Blümchen, ein Stück Holz, eine Kerze. In der Abstraktion zu bleiben, ist für Menschen sehr schwer. Der Geist braucht manchmal ein Vorbild, ein Objekt, damit er sich orientieren kann. Aber diese Objekte sind nur Hilfsmittel, an denen man nicht anhaften sollte. 

Denn wenn der Geist anhaftet, ist er gefangen, und im Gefängnis fühlt man sich niemals wohl. Wenn der Geist etwas in sich aufnimmt und das festhält, muss er sich darum kümmern, und dann ist dieser Platz besetzt und der Geist wird eng. Wenn er nicht festhält, dann ist er offen, weich und geschmeidig. Er kann das Leben konzeptfrei erfassen.

Das erfordert aber auch eine große Ehrlichkeit mit sich selbst, oder? Denn wenn alles im Herzen stattfindet, kann niemand es von außen beurteilen. Ein Mensch kann sich noch so minimalistisch und bescheiden geben, ob sein Geist frei ist oder nicht, kann in letzter Konsequenz nur er selbst beurteilen.

Ja. Und da ist die Praxis wichtig, die Achtsamkeit, mit der ich auf die Sinne und auf die Emotionen achte. Man muss schon ein bisschen wissen, wie man praktiziert und auf was man den Geist, das Bewusstsein richtet. Es geht darum, in unserem Geist zu erkennen, wie er sich bewegt. Möchte er greifen? Hat er eine Abneigung? Diese Bewegung im Geist gilt es zu erkennen.

Du baust ein Kloster für Nonnen auf. Wie gut gelingt das im Westen?

Ich habe bis jetzt sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir gehen hier im Ort, wenn Markt ist, auf pindapat, auf Almosengang, und die Menschen unterstützen uns. Natürlich fragen sich viele: Was soll das? Aber es gibt auch genügend Menschen, die von Herzen geben. Das zu erleben, ist sehr schön. Die Augen der Gebenden leuchten. Sie sehen uns, erwarten nichts von uns, gehen los, kaufen Obst und Gemüse und reichen uns das. Sicherlich ist die Situation Ordinierter in Asien, wo die Menschen den Buddhismus mit der Muttermilch aufsaugen, anders als hier im Westen, aber dort gibt es auch Schwierigkeiten, andere Schwierigkeiten, und hier finden sich Wege. 

Im Laufe der Zeit hat sich der Buddhismus immer an die Kulturen, in die er eingewandert ist, angepasst. Es braucht Zeit, aber es gelingt. Wichtig ist aber dabei, dass die Lehre selbst in ihrer Reinheit und in dem Ziel, zu dem sie führt, nicht kontaminiert wird. Aus meiner Sicht braucht man, damit der Buddhismus ganz ankommen kann, auch Menschen, die ihr Leben voll dem Dhamma widmen. Die beste Möglichkeit dafür ist der monastische Weg. Deswegen habe ich mich entschieden zu ordinieren.

Und das Leben in einem Kloster …

… erlaubt es Ordinierten, sich ganz auf die Praxis zu fokussieren. Nach der intensiven Meditationszeit im Garten wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte, also nahm ich mir vor, selbst einen Ort zu gründen. Ich habe buddhistische junge Menschen, Nichtordinierte und Freundinnen und Freunde, die die Lehre studieren, gefragt, ob sie mich unterstützen und sie haben es gern getan. Seit sieben Jahren bauen wir nun den Lilienhof in Estorf bei Nienburg an der Weser – das liegt in Niedersachsen zwischen Hannover und Bremen – zu dem Kloster Sirisampanno aus. Bis jetzt lebe ich als voll ordinierte Bhikkhuni zusammen mit einer Samaneri hier, demnächst wird noch eine Anagarika dazukommen. (Erläuterung der Redaktion: Nach einem einjährigen Probejahr als Anagarika – Anwärterin oder Hauslose – ist die Samaneri-Weihe zur Novizin in der Theravada-Tradition der zweite Schritt hin zur Ordination als voll ordinierte Bhikkhuni.) Wir orientieren uns an der Waldtradition, die dem ursprünglichen Leben des Buddha am nächsten kommt. Vieles ist hier im Westen natürlich nicht so leicht umzusetzen, aber wir bemühen uns. Mit Entschlossenheit, Geistesgegenwart und Geduld folgen wir dem Edlen Achtfachen Pfad, sila, samadhi, panna – also ethischem Verhalten, Meditation, Einsicht. Die Ordensregeln, der vinaya, sind für uns dabei sehr wichtig, ebenso die Meditation und das buddhistische Studium. Auch ein junger Mann, ein upasako, also ein Laienunterstützer, lebt dauerhaft hier im Kloster Sirisampanno. Er hält die acht Silas und unterstützt das Kloster auf vielfältige Weise. 

Du hast den Wert des Vinaya betont. Kannst du das ausführen?

Der Buddha hat betont, dass das Dhamma so lange lebt, wie auch der Vinaya lebt. Selbstverständlich können auch Nichtordinierte sich entwickeln, der Buddha hat schließlich auch die Hausleute gelehrt. Dennoch ist es wichtig, dass Menschen sich entschlossen haben, nach dem Vinaya zu leben und sich ganz der Buddhalehre zu widmen – nicht nur für sie selbst. Je reiner das Herz ist und je mehr wir wissen, umso besser können wir die Lehre auch weitergeben. Ich bin für die Menschen da – und der Vinaya unterstützt das.

Diese Regeln sind so wunderbar zusammengestellt, dass sie die Selbstlosigkeit fördern. Deshalb habe ich alle meine Kräfte dafür eingesetzt, dass ein Ort wie dieser entsteht, damit der Buddhismus hier auch wirklich Fuß fasst. Wenn neue Nonnen und Mönche kommen, entsteht ein Fluss. Dann lebt das Dhamma und kann bewahrt werden. 

Für mich ist der Vinaya eine ganz, ganz große Unterstützung. Wenn die Weisheit nicht da ist, ist der Vinaya da! Er hilft uns, nicht in Konflikte zu geraten, weder untereinander noch mit uns selbst oder der Welt. Darum habe ich ihn mit Freude auf mich genommen – und ich war immer ein Mensch, der die Freiheit liebt.

Aber auch dem Vinaya sollte man nicht anhaften, denn das könnte zu Fanatismus führen. Deshalb müssen wir auch mit ihm sehr bewusst umgehen. 

Ich danke dir sehr für dieses Gespräch. Möchtest du abschließend noch etwas sagen?

Mögen alle Wesen frei sein vom Leiden. Die letzten Worte des Buddha waren: Erkenne die Unbeständigkeit. Praktiziere ohne Unterlass.

Weitere Informationen:
Kloster Sirisampano: sirisampanno.de

Ayya Tisarani

ist buddhistische Nonne (Bhikkhuni) in der Theravada-Tradition und lebt im Kloster Sirisampano.

Alle Beiträge Ayya Tisarani