Erik Pema Kunsang, Marcia Binder Schmidt

Strahlende Vollkommenheit

Die Lebensgeschichte von Tulku Urgyen Rinpoche

Heft: 03 | 2016 Vom Leben und Sterben
Verlag:Manjughosha Edition
Ort:München
Jahr:2016
ISBN:978-3-945731-44-4
Preis:37,90 €
Seiten:620
Paperback, 111 Abbildungen

Rezension

Tulku Urgyen Rinpoche hat selbst nie ein Buch geschrieben. Alle Bücher, die unter dem Namen dieses 1995 verstorbenen Dzogchen-Meisters erschienen, sind Aufzeichnungen seines gesprochenen Wortes, die sein Schüler und Übersetzer Erik Pema Künsang über die Jahre gesammelt und veröffentlicht hat. Auch die Lebenserinnerungen, die dieser verwirklichte Meister, in seinem kleinen Meditationsraum sitzend, einem kleinen Kreis mitteilte, sind Erik und seiner damaligen Frau Marcia zu verdanken, die sie mit einem simplen Tonbandgerät aufgenommen haben. Der warme und bildhafte Erzählduktus von Tulku Urgyen wurde in diesem Buch unverändert weitergegeben und liest sich auch in der deutschen Übersetzung flüssig. Viele seltene Fotografien bereichern diese in vieler Hinsicht inspirierende Lektüre.

Tulku Urgyen gilt als Wiedergeburt einer der 25 Schüler Padmasambhavas. Als Nachkomme der Tsangsar Könige im Osten Tibets ist sein Stammbaum gespickt mit großen Praktizierenden und Yogis. Väterlicherseits war er Linienhalter der Barom-Kagyüpa, einer der vier großen Kagyü-Schulen, die mittlerweile so gut wie ausgestorben ist. Als Urenkel des Nyingma Tertöns Chokgyur Lingpa war er Träger der Terma-Tradition des Chokling Tersar.

Er selbst wurde vom 15. Karmapa als die Wiedergeburt von Guru Chöwang − einem der fünf Tertön-Könige bestätigt. Nach seiner Flucht aus Tibet wirkte Tulku Urgyen als Botschafter des 16. Karmapa in Rumtek, dem er mehrfach Übertragungen gab. Später überließ ihm König Birendra von Nepal mehrere Grundstücke auf dem Boden alter buddhistischer Heiligtümer im Tal von Kathmandu, mit dem Auftrag, das buddhistische Erbe des heute überwiegend hinduistischen Nepals wieder aufzubauen. Tulku Urgyen errichtete drei Klöster, u. a. im Umfeld der Stupas von Bouda und Swayambu. Desweiteren baute er eine Klausurstätte an dem von Padmasambhava geheiligten Pilgerort der Asura Meditationshöhle in Pharping.

Als Mahamudra- und Dzogchen-Autorität seiner Zeit war Tulku Urgyen Lehrer zahlreicher Lamas und von vielen Menschen aus dem Westen. Unter ihnen befanden sich auch Psychologen und Wissenschaftler wie Francisco Varela, die sich bereits in den 1970er-Jahren für die Auswirkungen der Meditation interessierten und den damals neu erstarkenden Neurowissenschaften bahnbrechende Impulse gaben. Tulku Urgyens auch im Westen bekannten vier Söhne – Chökyi Nyima, Tsike Chokling, Drubwang Tsoknyi und Yongey Mingyur Rinpoches − wurden alle als Wiedergeburten aus unterschiedlichen Vajrayana-Schulen anerkannt und geben das Vermächtnis dieses Meisters heute weiter.

Doch über all das erfahren wir in dem Buch wenig bis nichts. Stattdessen lesen wir, wie der Protagonist des Buches sich selbst vorstellt: „Ich verfüge über keinerlei besonderen Qualitäten, außer dass ich mich mit der Herstellung von bestimmten Tormas auskenne.“ Das uneitle Selbstverständnis eines Verwirklichten durchzieht das ganze Buch. Seine Memoiren beleuchten vor allem ein Leben in Tibet vor der chinesischen Invasion und seine Begegnungen mit spirituellen Persönlichkeiten, die eine Inspiration in seinem Leben waren. Tulku Urgyens eigener Titelvorschlag zum Zeitpunkt der Entstehung kommt dem Inhalt des Buches daher sehr nahe: „Eine hingebungsvolle Zusammenfassung von Lebensbeispielen erhabener Meister.“ Der Leser erfährt lebendig und farbenvoll vom Wirken spiritueller Größen der jüngeren Geschichte Tibets, wie Jamyang Khyentse Wangpo, Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye, Dza Patrul und Chokgyur Lingpa − herausragende Individuen, auf welche die als Rime-Bewegung bekannte unparteiische Vertretung der Essenz aller tibetisch-buddhistischen Schulen zurückgeht. Doch wir lesen nicht nur über die spirituelle Elite Tibets in der vorkommunistischen Ära. Das Buch zeichnet auch ein lebendiges Bild davon, wie flächendeckend und tief verwurzelt der Dharma vor der Zerstörung durch die Invasoren im tibetischen Dasein verankert war − das ganze Land war eine einzige buddhistische Bühne, durchzogen von einem Netz von Klausurstätten, yogischen Lagern und Klöstern. Wir begegnen auf den Seiten des Buches einer Selbstverständlichkeit gegenüber übernatürlichen Erscheinungen, Prophezeiungen und anderen geheimnisvollen Themen. Wundersame Kurzgeschichten gewähren Einblick in das Leben und Sterben bemerkenswerter Praktizierender. Der Insider entdeckt überdies auf spannende Weise Zusammenhänge der wichtigen Inkarnationslinien. Besonders interessant ist das Buch für Leser, die sich dem Erbe des tantrischen Ur-Meisters Padmasambhava verbunden fühlen und damit auch dem staunenswerten Thema von Termas und Tertöns, die diese von ihm versteckten „Schätze“ offenbarten und für zahllose Tibeter heute noch als Vertreter Guru Rinpoches gelten. In kaum einem anderen Buch kommt man auf derart konzentrierte Art den spirituell Verwirklichten Tibets näher als in diesen spannenden und unterhaltsamen Erinnerungsaufzeichnungen.

Ayshen Delemen

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