Editorial der Ausgabe 2015/1

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2015/1 Gemeinschaft unter der Rubrik Editorial.
Ursula Richard, Chefredakteurin

Liebe Leserin, lieber Leser,

auf einen spirituellen Weg begeben sich viele Menschen mit dem Wunsch nach Gemeinschaft, nach Austausch mit Gleichgesinnten, nach Geborgenheit und einem harmonischen Miteinander. Sich mit einer und sei es noch so kleinen Gruppe von Menschen (oder Tieren) verbunden zu fühlen ist nicht nur überaus stärkend, sondern oft ein Türöffner zu einer weit umfassenderen Dimension von Verbundenheit. „Es ist eine Illusion, dass wir als Einzelne erwachen können“, heißt es in einem Gedicht von Thich Nhat Hanh. Eine Illusion deswegen, weil wir letztlich nie voneinander getrennt, nie „Einzelne“ sind, als solche könnten wir gar nicht existieren. Vielleicht fühlt es sich deswegen so gut an, wenn wir diese Ebene im Kontakt miteinander auch gefühlsmäßig erfahren. Und gleichzeitig sind wir auch Individuen, haben unsere eigenen Prägungen, Ideale, Wünsche und Vorstellungen. Beide Aspekte sollten in einer Gemeinschaft geschätzt und gefördert werden.

Der buddhistische Weg ist von Beginn an als ein gemeinschaftlicher angelegt gewesen. Der Buddha sah in spiritueller Freundschaft ein einzigartig kostbares Gut, und Gemeinschaft, Sangha, galt ihm für die spirituelle Entwicklung des Einzelnen als sehr wesentlich. Seine Gemeinschaft bestand aus vier Pfeilern: Mönchen, Nonnen, Laienmännern und Laienfrauen. Sie alle waren wichtig und galten als gleichermaßen fähig, Befreiung zu erlangen. Zu seiner Zeit sprach man im Übrigen nicht von Laien, sondern von Haushältern. Ich persönlich finde den Begriff Laie als Bezeichnung für nicht ordinierte BuddhistInnen unglücklich gewählt, denn er hat in unserem Sprachgebrauch schlicht die Bedeutung von „Nichtfachmann/- frau“. Das verkennt aber, dass die buddhistischen Gemeinschaften im Westen im Wesentlichen von nicht monastischen Lehrenden getragen werden, die man durchaus als Fachleute auf ihrem Gebiet bezeichnen kann. Da brauchen wir m. E. neue Begriffe, um nicht sprachlich etwas zu zementieren, was der Wirklichkeit gar nicht gerecht wird.

Heute finden wir auch in buddhistischen Kreisen eine zunehmende Vielfalt an Gemeinschaftsformen: von sich klar einer Tradition/einem Lehrer oder einer Lehrerin zuordnenden, meist hierarchisch strukturierten Gemeinschaften bis zu offenen, traditionsübergreifenden Gruppen mit flachen Hierarchien, mit den vielfältigsten Formen dazwischen; von traditionell religiösen Sanghas bis zu säkularen; von Sanghas mit einem Zentrum bis zu Sanghas, deren Mitglieder nur über die neuen sozialen Medien in Kontakt sind. Es ist offenkundig, dass auch im spirituellen Bereich manche traditionellen Formen und Strukturen auf dem Prüfstand stehen und heute einiges infrage steht, was früher Sicherheit und Orientierung versprach, während vielfältige neue Formen entstehen. Das bedeutet eine sehr viel größere Auswahl für Suchende als noch vor 20 Jahren, möglicherweise auch mehr Unsicherheit oder Unverbindlichkeit, wenn eine Art Sangha-hopping entsteht.

Buddhismus aktuell beleuchtet in der vorliegenden Ausgabe das Thema „Gemeinschaft, Sangha“ von verschiedenen Seiten, auch um Anregungen zu geben für das eigene Nachdenken über die persönlichen Wünsche und Ansprüche an eine Gemeinschaft und um Mut zu machen, sich auf Gemeinschaftsbildung einzulassen.

Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre sowie ein friedvolles, glückliches Neues Jahr.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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